Das war sehr ausführlich, dachte Dalziel.
Er warf einen kurzen Blick auf Elizabeth Wulfstan. Da war etwas an ihr, das ihn beunruhigte. Vielleicht diese alten Augen in dem jungen Gesicht?
Er sagte: »Was ist mit Ihnen, Herzchen? Geh’n Sie auch gern allein spazieren, bevor Sie auftreten?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nur in Begleitung und wenn ich angesäuselt bin.«
»Und Sie, Miss?«
»Nein. Ich bewege mich aus Gründen der Notwendigkeit und nicht der Erholung«, antwortete Inger Sandel.
Dalziel wandte sich wieder an Krog.
»Wohin sind Sie denn gegangen?«
»Über die Gemeindewiese, nach rechts – Osten ist das wohl? Ich habe keinen besonders guten Orientierungssinn.«
»So. Nach Osten. Also nicht den Berg rauf?«
»Nein. Eigentlich hatte ich vorgehabt, dort hinaufzugehen, aber als ich aus dem Auto stieg und merkte, wie warm es ist, beschloß ich, in die andere Richtung zu gehen. Da ist Weideland mit ein paar Bäumen, keine großen Wälder, aber zumindest etwas Schatten. Das kleine Mädchen ist den Berg hinaufgegangen? Jetzt wünschte ich, ich hätte es auch getan. Vielleicht hätte ich …«
Chloe Wulfstan kam mit Dalziels kaltem Getränk ins Wohnzimmer zurück. Als sie es ihm reichte, machte Krog hinter ihrem Rücken eine kleine Kopfbewegung, um ihm zu verstehen zu geben, er möge mit seiner Befragung erst nach ihrem Verlassen fortfahren.
Doch Dalziel ignorierte seine Bitte und sagte nach einem Schluck frisch gepreßter Limonade: »Das ist wunderbar, meine Liebe. Also, Sie haben nix geseh’n, Mr. Krog?«
»Natürlich habe ich etwas gesehen: den Himmel und die Erde und die Bäume, und ich hörte Vögel und Schafe und Insekten. Aber soweit ich mich erinnern kann, habe ich keinen anderen Menschen gesehen oder gehört. Tut mir leid.«
»Ist schon gut. Natürlich haben Sie auch den Neb geseh’n, oder?«
»Was?«
Zum ersten Mal schien er um eine Antwort verlegen.
»Den Neb. Da Sie auf der gegenüberliegenden Seite des Tals waren, konnten Sie ihn eigentlich nicht überseh’n, würd ich meinen. Sie haben nicht etwa dran gedacht, den Leichenpfad raufzuspazieren und auf Dendale runterzugucken?«
Er sprach immer noch über Chloe Wulfstans Schulter hinweg. Mrs. Wulfstan starrte ungerührt auf sein Gesicht.
»Nein, das habe ich nicht«, erwiderte Krog verärgert. »Ich habe Ihnen gesagt, was ich tat, Mr. Dalziel. Wenn Sie noch weitere Fragen haben, so denke ich, daß die allgemeine Höflichkeit, wenn nicht gar der Anstand gebietet, daß Sie diese andernorts stellen.«
»Herrschaftszeiten! Ich glaub, Sie sprechen besser Englisch als die meisten Engländer, Mr. Krog«, sagte Dalziel und blinzelte Elizabeth Wulfstan heimlich zu. Dafür erntete er wiederum ein kurzes schwaches Lächeln.
Chloe Wulfstan sagte: »Wenn Sie hier fertig sind, Superintendent … Walters Besprechung ist beendet. Er dachte, Sie würden vielleicht lieber allein mit ihm reden. Wenn Sie also so nett wären, in sein Arbeitszimmer zu gehen …«
»Danke, meine Liebe«, meinte Dalziel. Er leerte seine Limonade, gab ihr das Glas zurück, nickte den anderen Frauen freundlich zu und verließ den Raum.
Arne Krog folgte ihm.
»Wollen Sie Walter auch wegen des Mädchens befragen?«
»Möglich«, entgegnete Dalziel.
»Meinen Sie wirklich, die Sache hat etwas mit Dendale zu tun, nach all den Jahren?«
»Sollte ich Grund dazu haben?«
»Ich bin gestern nach Danby gefahren, wie Sie wissen. Und ich habe diesen Spruch auf der Eisenbahnbrücke gelesen«, meinte Krog düster. »In dem Moment habe ich mir nichts dabei gedacht. Graffiti ist heutzutage wie Werbung. Man sieht die Worte, ohne die Botschaft zu registrieren, jedenfalls nicht bewußt. Aber später, als ich hörte …«
»Man darf keine voreiligen Schlüsse ziehen«, erwiderte Dalziel mit der gütigen Autorität eines Mannes, der im Laufe seines Lebens bereits mehr voreilige Schlüsse gezogen hatte, als in seinem Beruf nützlich war.
»Natürlich, da haben Sie recht. Aber ich bitte Sie, denken Sie an Chloe, ich meine Mrs. Wulfstan. In diesem Haus versuchen wir, alles zu vermeiden, was sie an jene schreckliche Zeit erinnern könnte.«
Er sprach mit deutlich anklagendem Tonfall.
»Wie nobel«, sagte Dalziel. »Aber reine Zeitverschwendung.«
»Wie bitte?«
»Sie glauben doch nicht, daß in den letzten fünfzehn Jahren auch nur ein Tag vergangen ist, an dem sie nicht an ihre Tochter gedacht hat. Wenn so was passiert ist, dann reicht allein das Aufwachen, um sich dran zu erinnern.«
Er sprach mit großem Nachdruck, und Krog sah ihn neugierig an.
»Bei Ihnen auch, Superintendent? Ich glaube, Sie denken auch immer daran.«
»Ja, klar. Aber nicht jeden Tag. Und nicht wie sie. Ich hab nur ’nen Verdächtigen verloren, keine Tochter.«
»Tja, ich glaube, wenn Sie die verloren hätten, hätten Sie Ihren Verdächtigen behalten«, sagte Krog und machte eine scharfe Bewegung mit der Handkante.
»Für einen Ausländer sind Sie ganz schön vorlaut, Mr. Krog«, entgegnete Dalziel und öffnete die Tür zum Arbeitszimmer.
Sieben
Peter Pascoe hatte sein Bestes versucht, Inspector Maggie Burroughs zu mögen, doch es wollte ihm nicht so recht gelingen. Daß sie effizient arbeitete, stand außer Zweifel. Daß sie inoffiziell eine Art gewerkschaftliche Vertrauensperson für alle weiblichen Polizisten in Mid-Yorkshire geworden war, war sehr lobenswert. Daß sie umgänglich, vernünftig und attraktiv war, war allgemein anerkannt.
Und dennoch … und dennoch …
»Ich glaube, wenn sie ein Kerl wäre, würde ich sie auch nicht mögen«, hatte Pascoe seiner Frau versichert, um zu zeigen, daß es keine geschlechtsspezifische Abneigung war.
Er war ein wenig pikiert gewesen, als Ellie ihn daraufhin ansah, als könnte sie sich zwischen Wutgebrüll und brüllendem Gelächter nicht entscheiden. Glücklicherweise wählte sie dann aber letzteres, obwohl er seine herablassende geistlose Bemerkung noch erweiterte: »Nein, nein, ich versichere dir, daß ich in ihr ganz objektiv die Zukunft der Polizei sehe …«
»Genau. Und wie die meisten Männer kurz vor dem interessanten Alter ist die Zukunft das letzte, das du mit objektiver Gleichmut betrachten kannst.«
Vielleicht hatte sie recht. Aber bestimmt nicht in jeder Hinsicht.
Denn ein durchaus erkennbarer, wenn auch unaussprechlicher Grund für seine Abneigung gegen Burroughs war die Tatsache, daß sie sich offensichtlich nichts aus Ellie machte, und das – vor allem bei einer Frau – verriet ihm eine verminderte Urteilsfähigkeit, die weder zu verzeihen noch wiedergutzumachen war.
Anders als Dalziel, der seine Abneigung durchscheinen ließ wie den Hintern durch eine abgewetzte Hose, verbarg Pascoe sie hinter lächelnder Liebenswürdigkeit.
»Hi, Maggie«, sagte er. »Wie läuft’s?«
»Bis jetzt haben wir nichts gefunden«, antwortete sie. »So allmählich bin ich derselben Meinung wie die Leute hier, nämlich, daß sie nicht mehr in der Gegend ist.«
»Entführt, meinen Sie? Shirley Novello hatte sich übrigens an die unbekannten Fahrzeuge gehängt. Allerdings ohne besonderen Erfolg.«
Er schnitt eine Grimasse, um sich von Dalziels abfälliger Reaktion gegenüber Novello zu distanzieren. Doch Maggie Burroughs schüttelte den Kopf.
»Nein, nicht von einem Fahrzeug, sondern von Geistern und Kobolden und solchen Kreaturen, die nachts ihr Unwesen treiben, oder in diesem Fall eben morgens. Hier sind alle überzeugt, daß dieser Benny sie geschnappt hat, und das steckt allmählich an. Wie lautet die offizielle Stellungnahme, Sir? Ich meine, das ist doch alles Unsinn, oder?«