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Als sie ihre Mutter erblickte, rief sie anklagend: »Ich hab euch doch gesagt, daß ihr mich nicht zur Schule schicken sollt.«

Danke für die Blumen, mein Kind, dachte Ellie.

Sie nahm Rosie kurz in den Arm und musterte sie dann aufmerksam. Ihr Gesicht war tatsächlich sehr gerötet.

»Geht es dir nicht so gut, mein Schatz?« fragte sie und versuchte, sachlich zu bleiben. »Im Bett bist du wohl am besten aufgehoben. Ich bring dich nach Hause.«

Sie dankte Miss Martindale, die aufmunternd lächelte, doch von der Sekretärin, die sie ganz offensichtlich zu der Sorte Mütter zählte, die ihr krankes Kind lieber zur Schule schickt, als ihre gesellschaftlichen Verabredungen abzusagen, erntete sie nur einen vorwurfsvollen Blick. Ellie schluckte und schenkte ihr ein liebenswürdiges Lächeln.

Auf dem Nachhauseweg plauderte sie munter drauflos, doch Rosie antwortete kaum. Im Haus sagte Ellie: »Marsch ins Bett. Dann bring ich dir was Kaltes zu trinken, ja?«

Rosie nickte und ließ sich von ihrer Mutter das Kleid aufknöpfen, was sie seit Monaten schon nicht mehr ohne »Ich kann das selbst«-Protestgeschrei zugelassen hatte.

In der Küche schenkte Ellie ein Glas selbstgemachte Limonade ein. Sie überlegte kurz und füllte dann ein weiteres Glas. Bettlägerigkeit bedingte mildernde Umstände.

»Hier, bitte schön«, sagte sie zu Rosie. »Für Nina hab ich auch ein Glas mitgebracht, falls sie durstig wird.«

»Hörst du mir denn gar nie zu?« erwiderte Rosie beleidigt. »Ich hab’s dir doch schon hundertmal gesagt. Nina ist wieder in der Höhle vom Nix. Ich hab gesehen, wie er sie geschnappt hat.«

Ihr vehementer Protest schien im ersten Moment ein gutes Zeichen, doch danach war das Mädchen sichtlich geschwächt. Sie nippte nur einmal kurz an ihrem Glas und sank dann in die Kissen zurück.

»Ich laß es ihr trotzdem da«, meinte Ellie fröhlich. »Vielleicht hat sie ja Durst, wenn ihr Vater sie gerettet hat.«

»Sei nicht albern«, murmelte Rosie. »Das war doch letztes Mal.«

»Letztes Mal?« fragte Ellie, während sie das dünne Laken über dem kleinen Körper glattstrich. »Aber das ist doch nur ein Mal passiert, oder, mein Schatz?«

Einen Augenblick lang betrachtete Rosie sie mit mütterlichem, liebevoll-verzweifelten Gesichtsausdruck. Dann schloß sie die Augen.

Ellie ging nach unten. War es notwendig, den Arzt anzurufen? Während sie bereit war, für ihre Rechte im Gesundheitswesen auf die Barrikaden zu gehen, war sie dennoch stets entschlossen, nicht zu den Müttern zu gehören, die bei jedem Schluckauf gleich Antibiotika verlangten.

Sie machte sich eine Tasse Tee und ging ins Wohnzimmer. Der CD-Spieler war an, und die Pausentaste leuchtete. Sie hatte gerade ihre neue Mahler-CD gehört, als Miss Martindale anrief.

Das größere Paket lag noch immer ungeöffnet da.

Es gab wohl kaum einen geeigneteren Moment, um seine literarischen Ambitionen in die richtige Perspektive zu rükken, als nach dem Versorgen des eigenen kranken Kindes. Dies war der richtige Augenblick, den Schlag ins Gesicht hinzunehmen.

Sie zerriß das Papier und nahm ihr Manuskript heraus. Angeheftet war ein Brief.

… vielversprechend, aber bei der derzeitigen Stimmung … schlechte Zeiten für Romane … mit dem größten Bedauern … bla bla bla …

Die Unterschrift war unleserlich. Kann man ihnen nicht verübeln, dachte Ellie. In diesem Beruf waren Mordanschläge bestimmt eine ernstzunehmende Gefahr. Selbst sie, mit immer noch rosigen Zukunftsperspektiven, spürte den schmerzvollen Stich der Ablehnung. Vielleicht bin ich einfach auf dem Holzweg? Welche Leserin will, zum Teufel, etwas über das angstvolle Leben einer Frau am Ende des zwanzigsten Jahrhundert lesen, wenn es doch genau ihrem eigenen Leben entspricht? Möglicherweise sollte ich etwas ganz anderes versuchen … einen historischen Roman vielleicht? Sie hatte sich ihrer Vorliebe für historische Romane immer ein wenig geschämt, da sie diese Art der Literatur als Flucht aus der rauhen Wirklichkeit des Lebens verurteilte. Aber Briefe wie dieser waren, verdammt noch mal, ein Aspekt der rauhen Wirklichkeit, dem sie nur allzu gern entfliehen würde!

Nachdenklich ergriff sie die CD-Fernbedienung und drückte die Starttaste.

»At last I think I see the explanation

Of those dark flames in many glances burning.«

Es war das zweite der »Kindertotenlieder«. Sie atmete tief durch und ließ die kräftige junge Stimme über sich hinwegschallen.

»I could not guess, lost in obfuscation

Of blinding fate …«

Obfuscation – Verfinsterung! Kein schönes Wort. Aber sie empfand Mitleid mit der Übersetzerin. Im Gegensatz zu anderen europäischen Sprachen mit ihren vielen Flexionsformen hatte das Englische wenig weibliche Reime, die zudem auch noch oft leicht belustigend klangen. Hier jedoch nicht – nicht mit der tragischen Macht dieser Musik.

»… even when your gaze was homeward turning,

Back to the source of all illumination.«

Was brachte einen Komponisten dazu, sich für die Vertonung eines bestimmten Gedichts zu entscheiden? In der kurzen Einführung zu den Liedern hatte sie gelesen, daß Alma Mahler die Besessenheit ihres Mannes von diesen elegischen Liedern sehr zuwider war, weil sie abergläubisch fürchtete, daß er das Schicksal in Versuchung führen könnte, seine eigene Familie heimzusuchen. Das war zwar irrational gewesen, aber Ellie konnte es sehr gut nachempfinden, da sie sich an ihr eigenes impulsives Bedürfnis erinnerte, alle Verkehrsregeln zu brechen, um möglichst schnell in Edengrove zu sein – und das trotz Miss Martindales Beteuerungen, daß nichts Schlimmes passiert sei.

Und es war doch auch nichts Schlimmes, oder? Nicht, wenn Miss Martindale es sagte. Anscheinend hatten all ihre Bemühungen, dem Stereotyp der hysterischen, überängstlichen Mutter zu entgehen, nichts genützt, denn genau so fühlte sie sich jetzt – wie Alma Mahler … Nur, daß Alma Mahler recht gehabt hatte, oder nicht? Wie mußte sie sich an ihre Ängste erinnert und sich gewünscht haben, sie hätte vehementer protestiert, als einige Jahre später die älteste Tochter an Scharlach starb!

»These eyes that open brightly every morning

In nights to come as stars will shine upon you.«

Die toten Augen als Sterne. Und das sollte als Trost gemeint sein? Sie unterbrach die melancholische Orchesterbegleitung per Knopfdruck, griff nach dem Telefon und wählte Jill Purlingstones Nummer.

Neun

Das Highcross Inn hatte einst eine erstklassige Lage gehabt, als Kutscher, Viehtreiber, Reiter und Wanderer zum langen Weg übers Moor nach Danby dort noch die letzte Stärkung einnahmen, während die Ankömmlinge aus entgegengesetzter Richtung sich ihre belohnende Erfrischung gönnten. Mit der Erfindung des Verbrennungsmotors änderte sich das alles. Was früher anstrengend gewesen war, war heute leicht, und die meisten Reisenden auf der Straße zum Highcross Moor benutzten den Weg nur als Abkürzung zur vielbefahrenen Nord-Süd-Tangente.

Äußerlich hatte sich das Pub in den zweieinhalb Jahrhunderten nur wenig verändert – abgesehen von den Werbeschildern für gutes Bier und dicke Pfannenpizza sowie der Erwähnung in einem dubiosen Reiseführer von einem gleichermaßen dubiosen Journalisten, der sich als Yorkshire-Experte bezeichnete, obwohl er mit achtzehn nach London gezogen und nur zweimal zu Familienbegräbnissen in die Gegend zurückgekehrt war. Tatsächlich sah der bröckelnde Anstrich teilweise so aus, als sei er noch der erste, aber das konnte auch am langen heißen Sommer liegen.