Wir müssen da noch eine halbe Stunde oder länger gesessen haben. Schließlich war sie zufrieden, und wir sagten dem Pfarrer auf Wiedersehen. Er wollte sich noch unterhalten, aber ich merkte, daß Inger keine Lust dazu hatte, und wir gingen raus. Nach der kalten Kirche war es, wie wenn man in eine heiße Badewanne steigt, und das helle Licht blendete mich.
Dann fiel mir Mary ein.
Ich rief nach ihr. Nichts. Es war wieder so wie in Madges Garten.
Inger rief sie auch, und Reverend Disjohn kam aus der Kirche und fragte, was los wäre.
»Ach, nichts«, sagte Inger. »Ich glaube, Mary ist schon mit Arne nach Hause gegangen.«
Sie sagte es ganz beiläufig, aber an dem Blick, den sie und der Pfarrer sich zuwarfen, konnte ich sehen, daß sie sich entsetzliche Sorgen machten.
Mir war auch entsetzlich zumute, aber nicht vor Sorge. Sorgen macht man sich, wenn man etwas nicht weiß. Und ich wußte, daß Mary verschwunden war.
Wir liefen zum Heck-Hof zurück. Arne war da und Tante Chloe. Ich dachte, sie würde vor unseren Augen sterben, als wir fragten, ob Mary zurück wäre. Ich hatte schon oft gehört, wie Leute sagten, jemand wird weiß wie eine Wand, aber jetzt kapierte ich zum ersten Mal, was das heißt.
Der Pfarrer war auf dem Weg durch das Dorf in die Gemeindehalle gegangen, und nun kam auch gleich die Polizei hinterher.
Ich habe alles erzählt, was ich wußte. »Bist du sicher, daß es Benny Lightfoot war?« fragten sie mich immer wieder, und ich sagte immer wieder: »Ich glaube, ja.« Dann sagte Arne: »Ich glaube, das ist genug für die junge Dame, oder?« Und er legte seinen Arm um mich, führte mich raus und brachte mich nach Hause.
Sie suchten wieder den Neb ab, mit Hunden und allem, wie letztes Mal. Und wie letztes Mal kamen sie mit nix zurück.
Und sie suchten wieder nach Benny, aber auch den fanden sie wieder nicht.
Seine Oma sagte, er wäre den ganzen Nachmittag bei ihr gewesen, bis er die Polizeiwagen den Weg raufkommen sah. Da wäre er dann weggelaufen, weil er die Fragerei nicht mehr ertragen konnte. Niemand glaubte ihr, zumindest nicht, daß er den ganzen Nachmittag bei ihr gewesen war.
Dann kam Mr. Wulfstan nach Hause. Er drehte vollkommen durch. Er kam zu uns und fragte mich aus, was passiert ist. Zuerst versuchte er, nett und freundlich zu sein, aber nach einer Weile wurde seine Stimme immer lauter und er klang so böse, daß ich weinen mußte. »Was soll das heißen, du weißt nicht, wo sie sich versteckt hat? Was soll das heißen, du glaubst, du hast Benny gesehen? Was soll das heißen, du hast aufgehört zu spielen und hast in der Kirche der Musik zugehört?«
Inzwischen hatte er mich gepackt, und ich heulte mir die Augen aus. Dann kam Mam wieder ins Zimmer, die rausgegangen war, um Tee zu kochen, und fragte ihn, was zum Teufel er da macht. Ich hatte sie vorher noch nie fluchen gehört. Mr. Wulfstan beruhigte sich etwas und sagte, es täte ihm leid, was aber nicht so klang, als ob das stimmte, und dann ging er wieder weg, ohne seinen Tee zu trinken. Später hörten wir, daß er zum Neb Cottage gefahren ist und mit der alten Mrs. Lightfoot gestritten hat, und die Polizei mußte ihn wegholen, und er beschuldigte sie, es sei alles ihre Schuld, weil sie Benny wieder freigelassen hätten, nachdem sie ihn schon in der Zelle hatten, und wenn Mary was passiert wäre, würde er dafür sorgen, daß jeder einzelne von ihnen dafür büßen muß.
Ich fragte Mam, warum er so böse auf mich wäre. Sie sagte, er ist nicht böse auf dich, er ist böse auf sich selbst, weil er nicht besser auf das aufgepaßt hat, was er am meisten auf der Welt liebt. Ich sagte, aber er hat doch keine Schuld, daß Mary verschwunden ist, und sie sagte, ja, aber er glaubt es, und deshalb rennt er jetzt herum und sucht jemand anders, dem er die Schuld geben kann. Und ich fragte mich, ob mein Dad wohl auch so rumlaufen würde, wenn ich verschwinden würde. Wochen vergingen. Mary wurde nicht gefunden. Und Benny auch nicht. Das Konzert wurde abgesagt. Arne und Inger fuhren weg. Und dann kam der Tag, an dem wir alle aus unseren Häusern ausziehen mußten.
Ich war froh wegzugehen. Alle machten lange Gesichter, und ein paar weinten und jammerten. Dad lief rum, als ob er gerne jemanden verprügeln würde, und Mam, die wieder schlecht drauf war, konnte sich kaum aus dem Haus schleppen. Aber ich saß hinten im Auto und hielt Bonnie fest im Arm und biß mir von innen auf die Backen, um nicht dauernd zu grinsen. Ich war ja erst sieben und dachte, daß Trauer und Schuld und Angst Dinge sind, vor denen man wegfahren kann wie von Häusern und Scheunen und Feldern, damit sie überschwemmt werden.
Und dann, als wir zum letzten Mal durch das Dorf fuhren, fielen plötzlich Regentropfen auf die Windschutzscheibe – die ersten, die wir seit vier Monaten gesehen hatten. Und ich dachte an Reverend Disjohn und seine Freitagspredigt und war sicher, daß Gott hier wieder seine Gesegnete Flut schickte, um eine Welt zu reinigen, die von all unseren Sünden beschmutzt worden war.
Zwei
»And now the sun will rise as bright
As though no horror had touched the night.
The horror affected me alone.
The sunlight illuminates everyone.«
Schöne Stimme«, meinte Peter Pascoe, den Mund voller Quiche. »Nur diese Tubafanfare stört ein bißchen.«
»Das war eine Autohupe, oder ist dein Blechohr nicht in der Lage, den Unterschied zu erkennen? Aber wahrscheinlich lehnt der Dicke seinen ausladenden Resonanzkörper darauf.«
»Warum, glaubst du wohl, schlinge ich mein Essen so runter?« erwiderte Pascoe.
»Ich habe es bemerkt. Peter, es ist Sonntag, dein freier Tag. Du mußt nicht mitfahren.«
Er schenkte ihr ein merkwürdig ernstes Lächeln und sagte freundlich: »Nein, muß ich nicht. Aber ich werde es trotzdem tun. Das gibt dir Gelegenheit, deine Sonntagsruhe produktiv zu unterbrechen.«
Das war eine Anspielung auf Ellies schriftstellerische Ambitionen, die ein Schreibblock und drei Stifte neben ihrem Liegestuhl zum Ausdruck brachten.
»Bei dieser Hitze kann ich mich nicht konzentrieren«, entgegnete sie. »Mein Gott, der Dicke wird noch die ganze Straße zusammenhupen!«
Die Hupe gab eine Variation des Eröffnungsmotivs von Beethovens Fünfter zum besten.
Pascoe ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. »Mach dir nichts draus. Wahrscheinlich bist du schon berühmt, und sie haben’s dir nur noch nicht gesagt.«
Ellie hatte drei Romane geschrieben, die allerdings noch unveröffentlicht waren. Das dritte Manuskript lag seit drei Monaten beim Verleger. Telefonisch hatte man ihr versichert, man ziehe eine Annahme ernsthaft in Erwägung, und die dadurch geweckte Hoffnung störte ihre Kreativität mehr als jede Hitzewelle.
Es klingelte an der Tür. Der Dicke war aus seinem Wagen gestiegen. Pascoe spülte den letzten Bissen Quiche mit einem Schluck Wein hinunter und beugte sich vor, um seine Frau zu küssen. Bei Ellie war jeder Kuß ein richtiger Kuß. Sie hatte einmal gesagt, sie habe nichts gegen einen Schmatz auf die Backe, aber nur, wenn sie gerade nicht darauf sitze. Jetzt hob sie ihren bikinibedeckten Körper Pascoe halb entgegen und verabschiedete sich mit energischem Zungenschlag.
Die Türglocke konkurrierte mit dem Glockengetöse zum Ende der 1812-Ouvertüre, begleitet von einer Kanonade Faustschläge gegen das Holz.
Widerstrebend richtete Pascoe sich auf und ging ins Haus. Auf dem Weg zur Tür zog er einen leichten Regenblouson vom Haken. Es hatte zwar seit Wochen nicht mehr geregnet, aber Andy Dalziel weckte den Pfadfinder in ihm.