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Es wäre ihm lieber gewesen, sie hätte das übernommen. Wie er Ellie einmal erklärt hatte, wird Schüchternheit durch Polizeiarbeit keinesfalls kuriert – erstere wirkt sich auf letztere nur hin und wieder ziemlich störend aus; zum Beispiel, wenn man sich in einem fremden Haus befindet und weit und breit keinen Ansprechpartner sieht.

Zunächst hüstelte er, dann rief er mit der verhaltenen Stimme, die Kellnern gegenüber höflichen Befehl und Entschuldigung zugleich ausdrückte, »Hallo!«.

Angestrengt lauschte er auf Antwort. Es kam keine, aber er vermeinte in einiger Entfernung Stimmen zu hören.

Dalziel hätte entweder »Holla!« gebrüllt oder die Chance genutzt herumzuschnüffeln.

Pascoe wollte gerade losbrüllen, da entschied er sich, daß es für einen Mann seines Temperaments weniger peinlich wäre, beim Herumschnüffeln entdeckt zu werden.

Er schob die nächstliegende Tür auf und bereitete seine Lippen bereits auf ein entschuldigendes Lächeln vor.

Er stand im Türrahmen eines Raumes, der wie das Studierzimmer eines Gentleman des letzten Jahrhunderts wirkte. Glänzende Buchvitrinen, ein Schreibtisch aus Mahagoni, Täfelung aus Eichenholz. Pascoe dachte an das vollgestellte Gästezimmer, das er zu Hause als Arbeitszimmer benutzte. Vielleicht sollte er anfangen, Bestechungsgelder anzunehmen.

Das Zimmer war leer, aber die Entscheidung, eine Taktik des Dicken zu übernehmen, ging nicht so weit, auch in den Schubladen herumzuschnüffeln.

Er ging in den Flur zurück und versuchte die gegenüberliegende Tür. Hinter ihr lag ein kleines Wohnzimmer, das ebenfalls leer war, von dem aus eine weitere Tür in ein geräumiges Eßzimmer mit einem so herrlich blankpolierten ovalen Eßtisch führte, der das Herz eines jeden Tischlers hätte höher schlagen lassen.

Ihm gegenüber befand sich in der Wand eine halb geöffnete Durchreiche. Die Stimmen, die er vorher gehört hatte, waren nun deutlich zu verstehen, und er schlich hin und spähte durch den Spalt, ohne ihn weiter zu öffnen.

Er blickte in eine Küche, doch die Sprecher befanden sich nicht darin. Die Hintertür war weit geöffnet, und Pascoe erkannte dahinter eine Veranda und einen der langen, üppig bewachsenen »Glockengärten« und fühlte sich wiederum vom Neid gepackt. Er konnte zwei Personen erkennen. Die eine im Profil, eine Frau, saß in einem Korbsessel mit niedriger Lehne. Die andere, ein Mann, beugte sich von hinten über sie, hatte die Hände unter ihre Bluse geschoben und massierte sanft ihre Brüste.

Der Mann (den er ebenfalls aus dem Artikel in der »Post« wiedererkannte) war Arne Krog. Die Frau mußte Chloe Wulfstan sein, was sogleich bestätigt wurde.

Krog sagte: »Genug ist genug. Eines Tages wirst du ihn verlassen müssen. Wenn nicht jetzt, wann dann?«

Die Frau erwiderte aufgebracht: »Warum werde ich ihn verlassen müssen? Na gut, ja, vermutlich hast du recht. Aber ich habe die Wahl. Wie Selbstmord. Wenn man weiß, man kann es tun, macht es das Leben sehr viel leichter.«

»Du meinst, allein die Tatsache, daß du weißt, daß du ihn eines Tages verlassen wirst, gibt dir die Kraft, bei ihm zu bleiben? Ach, komm schon, Chloe! Das ist nur eine clevere Methode, Worte zu benutzen, um Entscheidungen zu vermeiden.«

Sie ergriff seine Handgelenke und schob seine Hände aus ihrer Bluse. »Erzähl mir nichts von nicht getroffenen Entscheidungen, Arne. Was ist denn deine Entscheidung bei alledem? Willst du etwa sagen, wenn ich Walter heute verlasse, hebst du mich auf deinen Sattel, galoppierst mit mir in den Sonnenuntergang und bereitest mir ein Happy-End?«

Arne Krog zupfte gedankenvoll an seinem Kinnbart. Er hat seine Finger gern auf etwas Weichem, dachte Pascoe.

»Ja, ich denke, das ist mehr oder weniger das, was ich sagen will.«

»Mehr? Oder weniger?«

»Na ja, weniger das mit dem Sattel«, erwiderte er lächelnd. »Und ich bin nicht sicher, ob irgend jemand ein Happy-End versprechen sollte. Aber soweit das menschenmöglich ist, werde ich es tun.«

Er sprach den letzten Satz in schlichter Aufrichtigkeit, die Pascoe beinahe rührend fand.

Chloe stand auf und sah ihn liebevoll an – etwa so, wie man einen liebenswerten, aber nicht dressierbaren Hund ansieht.

»Du liebst mich also, Arne. Genug, um den Rest deines Lebens mit mir zu verbringen? Mein überaus perfekter, liebenswürdiger und treuer Ritter. Du wärst doch treu, oder, Arne? Ich meine, wenn wir nicht zusammen sind, treibst du es nicht mit deinen kleinen Konzertreisen-Groupies oder Sängerinnen aus dem Opernchor, oder?«

Krog hörte auf, seinen Bart zu streicheln.

»Laß mich raten«, sagte er mild. »Unsere kleine Yorkshire-Nachtigall hat gesungen?«

»Ich habe mit meiner Tochter gesprochen, ja.«

»Deiner Tochter.« Krog lächelte. »Ich kann mich an deine Tochter erinnern, Chloe. Und alle Perücken, Kosmetika und Diäten der Welt können Betsy Allgood nicht in deine Tochter verwandeln. Falls es das ist, was sie versucht.«

»Warum haßt du sie nur so, Arne? Kommt das, weil sie die Karriere haben wird, von der du immer geträumt hast? Ein großer Fisch im großen Teich, nicht bloß ein kleiner in der Pfütze?«

»Das beweist, wie nahe wir uns tatsächlich stehen, Chloe. Ich kann meine Enttäuschungen nicht vor dir verbergen.«

Chloe lächelte traurig.

»Arne, du verbirgst sie vor niemandem. Jeder, der nach außen hin so gelassen ist, muß innerlich brodeln. Vielleicht solltest du etwas von deiner Wut in deinen Gesang legen.«

»Ah, kehrst du jetzt die Musikkritikerin und Psychologin heraus? Vielleicht hast du recht. Nur weil ich ruhig wirke, heißt das nicht, daß ich nicht wütend bin. Aber genauso gilt: nur weil ich mit jemandem bumse, heißt das nicht, daß ich dich nicht liebe. Du kannst das ruhig konsequent zu Ende denken, meine Liebe. Und nur weil ich jetzt nicht außer mir bin vor Verzweiflung, heißt das nicht, daß ich dich aufgebe. Wenn du ihn nicht verläßt, warte ich, bis er dich verlassen hat, was er sicher tun wird, glaube mir. Alle werden dich verlassen: Elizabeth wegen ihrer Karriere, Walter wegen … Gott weiß, weswegen. Und eines Tages wirst du dich umsehen, und es wird niemand mehr da sein außer dem guten alten gelassenen Arne. Lauf lieber jetzt, rat ich dir. Man spürt viel weniger Schmerz, wenn man läuft, als wenn man stillsteht.«

Es war an der Zeit, dachte Pascoe, sich bemerkbar zu machen, bevor Inger Sandel zurückkehrte und sich fragte, was er die ganze Zeit in dem Haus getrieben hatte, ohne mit Chloe zu sprechen.

Er ging zurück in den Flur, marschierte geräuschvoll auf die Küchentür zu, stieß sie auf und rief mit Dalziel-gleichem Nachdruck: »Holla!«

Dann ging er in die Küche, setzte ein entschuldigendes Lächeln auf, als sich ihre überraschten Gesichter zu ihm wandten, trat auf die Veranda, zog seinen Dienstausweis hervor und sagte: »Hallo. Tut mir leid, Sie zu stören, aber Miss Sandel hat mich reingelassen. Chief Inspector Pascoe. Mrs. Wulfstan, ich würde gern ein paar Worte mit Ihnen reden.«

Krog blickte ihn stirnrunzelnd an. Pascoe dachte, der Schlaumeier überlegt jetzt, daß Sandel schon vor fünf Minuten das Haus verlassen hat, und fragt sich, was zum Teufel ich in der Zwischenzeit gemacht habe.

Er sagte: »Sie sind Mr. Krog, nicht? Der Sänger? Meine Frau ist ein großer Fan von Ihnen.«

Ihm fiel ein, daß er einen Schriftsteller bei einem Interview einmal hatte sagen hören, wenn ein Mann ihm erzählte, seine Frau liebe seine Bücher, daß er den Mann von oben bis unten mustern und antworten würde: »Tja, irgendwann muß man auch mal wählerisch sein.«

Doch Krog sagte nur: »Wie schön. Entschuldigen Sie mich bitte.« Und ging.

»Setzen Sie sich doch, Mr. Pascoe«, forderte Chloe Wulfstan ihn auf. »Ich fürchte allerdings, daß ich nicht viel Zeit habe.«

»Ja, natürlich. Das Konzert. Ihr Mann ist schon fort? Eigentlich wollte ich ja ihn sprechen, also muß ich Sie nicht weiter aufhalten.«