Der Jagdzug war, wie der Leser weiß, bisher recht erfolgreich gewesen. Des Klimas schon gewöhnt, hatten John Cort und Max Huber die Mühsal und die Anstrengungen der Reise ganz vorzüglich ausgehalten. Wenn auch etwas abgemagert, waren sie auf dem Rückwege völlig wohlauf, als der unglückliche Zwischenfall ihren weiteren Zug so grauenvoll unterbrach.
Jetzt, wo sie noch bis Libreville eine Strecke von reichlich zweitausend Kilometern zurückzulegen hatten, fehlte ihnen sogar der Leiter der ganzen Karawane.
Den »Großen Wald« hatte Urdax den Wald von Ubanghi, dessen Grenzen sie eben überschritten hatten, genannt, und seine Ausdehnung rechtfertigte auch diesen Namen.
In den bekannten Theilen der Erde giebt es mehrfach solche mit Millionen von Bäumen bedeckte und so große Flächen, daß die meisten Staaten Europas darauf bequem Platz fänden.
Unter den ausgedehntesten Waldgebieten der Welt nennt man vor allem vier, die in Nordamerika, in Südamerika, in Sibirien und in Centralafrika zu suchen sind.
Der erste erstreckt sich in nördlicher Richtung bis zur Hudsonbai und zur Halbinsel Labrador hinauf, und bedeckt, in den Provinzen Quebec und Ontario, nördlich vom Lorenzostrome, ein Gebiet von zweitausendsiebenhundertfünf-zig Kilometer Länge und sechzehnhundert Kilometer Breite.
Der zweite findet sich im nordwestlichen Brasilien im Thale des Amazonenstromes in einer Ausdehnung von dreitausenddreihundert Kilometer Länge bei zweitausend Kilometer Breite.
Der dritte, mit den Seitenlängen von viertausendachthundert und zweitausendsiebenhundert Kilometern, ragt mit seinen ungeheueren, bis hundertfünfzig Fuß hohen Coniferen (Nadelhölzern) im mittleren Theile von Sibirien empor, und zwar vom Becken des Obi im Westen an bis zum Thale des Indighiska im Osten, einer Gegend, die vom Jenissei, vom Olamk und von der Lena und Yana bewässert wird.
Der vierte endlich reicht vom Congothale bis zu den Quellen des Nils und des Sambesi; er umfaßt eine fast unbegrenzte Fläche, wahrscheinlich eine größere, als einer der anderen Riesenwälder. Hier dehnt sich die ungeheuere, noch fast unbekannte Landmasse aus, der mittlere zu beiden Seiten des Aequators liegende Theil Afrikas, der im Norden des Congo und des Oguë wohl eine Million Quadratkilometer – zweimal die Oberfläche Frankreichs – einnimmt.
Wie früher erwähnt, hatte der Portugiese Urdax niemals beabsichtigt, durch diesen Wald zu ziehen, sondern er wollte ihn nach Westen zu, umgehen. Wie hätten auch der Wagen und das Ochsengespann inmitten dieses Labyrinths vorwärts kommen können! Eine Verlängerung ihres Marsches um einige Tage in den Kauf nehmend, sollte die Karawane an dessen Saume hin einem bequemen Wege folgen, der nach dem rechten Ufer des Ubanghi führte, von dem aus dann die Factoreien von Libreville ohne Schwierigkeit zu erreichen waren.
Jetzt hatte sich die Sachlage freilich geändert. Das Hinderniß eines zahlreichen Personals und eines umfänglichen Gepäcks war plötzlich weggefallen… jetzt war von keinem Wagen, keinem Ochsen, von keinem Lagermaterial mehr die Rede…
nur drei Männer und ein Knabe – ein halbes Kind – waren noch übrig, und diesen fehlte es für die fünfhundert Lieues bis zur Küste des Atlantischen Oceans an jedem Transportmittel.
Was sollte nun geschehen? Sollten sie dem von Urdax vorgeschlagenen Wege nachgehen, oder etwa, wenn auch unter ungünstigen Verhältnissen, als Fußgänger versuchen, schräg durch den Wald zu dringen, wo Begegnungen mit Nomaden weniger zu fürchten waren und wodurch der Weg nach dem französischen Congogebiet nicht unbeträchtlich abgekürzt wurde?
Das war die nächstliegende wichtigste Frage, die am folgenden Morgen, wenn Max Huber und John Cort erwacht wären, erwogen und entschieden werden mußte.
Khamis hatte die langen Stunden über redlich Wacht gehalten. Kein Zwischenfall hatte die Ruhe der Schläfer gestört oder einen nächtlichen Ueberfall befürchten lassen. Wiederholt war der Foreloper, den Revolver in der Hand, ein Stück weit hineingegangen und hatte sich durch das Buschwerk geschlichen, sobald er in der Umgebung ein verdächtiges Geräusch vernahm. Immer war es nur das Abbrechen eines abgestorbenen Zweiges gewesen, der Flügelschlag eines großen Vogels, der sich in den Baumkronen bewegte, das Stapfen eines Wiederkäuers in der Nähe des Halteplatzes, oder es hatte von dem unbestimmbaren Waldesraunen hergerührt, wenn der Nachtwind das obere Laubdach bewegte.
Sobald die beiden Freunde die Augen aufschlugen, waren sie auch schon auf den Füßen.
»Wie steht es mit den Eingebornen? lautete John Cort’s erste Frage.
– Sie sind nicht wieder sichtbar geworden, erwiderte Khamis.
– Finden sich denn keine Spuren von ihrem Wegzuge?
– Das wäre wohl möglich, Herr Cort, wahrscheinlich näher am Rande…
– Wir wollen uns gleich davon überzeugen, Khamis.«
Alle drei, und mit ihnen Llanga, gingen nach der Seite der Ebene hin. Dreißig Schritte weiter fehlte es nicht an den vermutheten Merkzeichen: vielfache Fußabdrücke, am Fuße der Bäume niedergetretenes Gras, halb verbrannte harzige Zweige, Aschenhausen, worin noch immer einzelne Funken glitzerten, Dorngestrüpp, aus dem da und dort noch ein leichter Rauch aufwirbelte. Im übrigen aber fand sich kein menschliches Wesen unter den Bäumen oder an den Stellen, wo sich fünf bis sechs Stunden vorher die schwankenden Flammen gezeigt hatten.
»Davongezogen… sagte Max Huber.
– Oder sie haben sich wenigstens von hier entfernt, meinte Khamis, und ich glaube, wir haben hier nichts mehr zu befürchten…
– Na, wenn die Eingebornen sich auch entfernt haben, bemerkte John Cort, so sind die Elefanten wenigstens ihrem Beispiele nicht gefolgt.«
In der That tummelten sich die mächtigen Pachydermen noch immer in der Nähe des Waldes umher. Manche davon bemühten sich hartnäckig, die Bäume am Rande durch Anprallen daran umzustürzen. Was die Tamarindengruppe anging, konnten Khamis und seine Leidensgefährten erkennen, daß sie völlig umgelegt war. Der seiner Baumzierde beraubte Hügel bildete nur noch eine leichte Erhebung über der Fläche der Ebene.
Auf den Rath des Forelopers hin vermieden es John Cort und Max Huber, sich zu zeigen, in der Hoffnung, daß sich auch die Elefanten davontrollen würden.
»Das würde uns gestatten, noch einmal nach dem Lager zurückzukehren, sagte Max Huber, und dort die Ueberreste unserer Habseligkeiten zu sammeln, vielleicht einige Kistchen mit Conserven, Munition…
– Und dazu, fiel John Cort ein, könnten wir dem unglücklichen Urdax ein ehrliches Begräbniß bereiten.
– An alles das ist nicht zu denken, so lange die Elefanten sich noch am Saume des Waldes tummeln, erklärte Khamis. Was übrigens das Material aller Art betrifft, so dürfte das wohl in formlose Trümmer verwandelt sein.«
Der Foreloper sollte recht behalten, und da die Elefanten keine Anstalt machten, abzuziehen, handelte es sich nun darum, zu entscheiden, was begonnen werden sollte. Khamis, John Cort und Max Huber kehrten also nach dem Ruheplatze zurück.
Dabei gelang es Max Huber noch, ein hübsches Stück Wild zu erlegen, das die Ernährung der kleinen Gesellchaft für zwei bis drei Tage zu sichern versprach.
Es war ein Inyala, eine Art Antilope mit grauem, von braunen Haaren durchsetztem Fell, ein ziemlich großes Exemplar männlichen Geschlechts, mit gewundenen Hörnern und mit einer Art Mähne an der Brust und der Unterseite des Leibes. Die Kugel hatte das Thier getroffen, als dieses gerade den Kopf durch das Gesträuch vorstreckte.
Der Inyala mochte zweihundertfünfzig bis dreihundert Pfund wiegen. Als er ihn zusammenbrechen sah, war Llanga wie ein Jagdhund darauf zugelaufen. Natürlich konnte er ein so schweres Stück Wild nicht allein tragen und man mußte ihm dabei zu Hilfe kommen.