Von mehr phantastischen Nebendingen abgesehen, war dieser Vorschlag wohl der Erwägung werth.
Die Gelegenheit schien besonders günstig zu sein. Wenn das Fest mit der Nacht zu Ende ging, so dauerte ja wenigstens der Zustand der Trunkenheit fort, in den die gesammte Dorfbevölkerung gerathen war. Diesen Umstand galt es doch auszunützen, zumal da es wahrscheinlich lange dauerte, ehe er sich wiederholte. Die halb berauschten Wagddis waren dann jedenfalls zum Theil in ihren Strohhütten eingeschlafen, zum Theil mochten sie sich weit in den Wald hinein zerstreut haben.
Selbst die Krieger hatten dadurch, daß sie sinnlos tranken, ihre Uniform nicht zu entehren gefürchtet. Die königliche Wohnung würde deshalb also weniger sorgsam überwacht, und es konnte nicht schwer sein, bis zum Zimmer Mselo-Tala-Talas vorzudringen.
Dieser, auch von Khamis, dem allzeit weisen Berather, gebilligte Plan sollte also ausgeführt werden, und man wartete dazu nur die Nacht ab, wo im Dorfe allgemeine Trunkenheit herrschen mußte. Natürlich war Kollo, dem man erlaubt hatte, den Festlichkeiten beizuwohnen, noch nicht zurückgekehrt.
Gegen neun Uhr verließen Max Huber, John Cort, Llanga und der Foreloper ihre Hütte.
Ngala, das keinerlei öffentliche Beleuchtung hatte, lag in tiefem Dunkel. Die harzigen Fackeln, die zwischen den Baumkronen leuchteten, waren dem Erlöschen nahe. In der Umgebung Ngalas wie unter diesem summte noch ein verworrener Lärm, meist an der der Wohnstätte des Doctor Johausen entgegengesetzten Seite.
John Cort, Max Huber und Khamis hatten in der Voraussicht, noch heute Nacht mit oder ohne Zustimmung Seiner Majestät zu entfliehen, schon ihre Gewehre mitgenommen und ihre Taschen mit allen in dem Kasten noch vorhandenen Patronen gefüllt. Ueberraschte man sie, so konnte es ja nothwendig werden, die Feuerwaffen mitreden zu lassen… eine Sprache, die die Wagddis offenbar noch nicht kannten.
So gingen alle vier zwischen den meist leerstehenden Hütten dahin. Auf dem Platze angekommen, zeigte er sich völlig leer und in Dunkel gehüllt.
Nur aus dem Fenster der Wohnung des Souveräns drang ein schwacher Lichtschein.
»Hier ist niemand,« flüsterte John Cort.
In der That war kein lebendes Wesen zu entdecken, nicht einmal vor der Wohnung Mselo-Tala-Talas.
Raggi und seine Krieger hatten ihren Posten verlassen; diese Nacht war der Herrscher also nicht gut bewacht.
Immerhin konnten sich in der Nähe Seiner Majestät einige
»dienstthuende Kammerherren« aufhalten, deren Wachsamkeit wohl nicht so leicht zu täuschen war.
Wie dem auch sein mochte, Khamis und seinen Gefährten erschien die Gelegenheit gar zu verlockend. Durch glücklichen Zufall waren sie schon völlig unbemerkt bis an die Königswohnung gekommen, und jetzt wollten sie auf jeden Fall hineindringen.
Auf den Aesten hinkletternd, konnte Llanga bis an die Thür gelangen und sich von oben aus überzeugen, daß man diese nur aufzustoßen brauche, um ungehindert einzutreten.
John Cort, Max Huber und Khamis gingen sofort darauf zu.
Vor dem Eintreten legten sie einige Minuten das Ohr an die Wand, um zu lauschen und sich im Nothfalle noch zurückziehen zu können.
Weder drin noch draußen ließ sich das geringste hören.
Da überschritt Max Huber als der erste die geheiligte Schwelle. Seine Gefährten folgten ihm und drückten die Thür hinter sich wieder zu.
Die Wohnung bestand aus zwei nebeneinander liegenden Zimmern, das waren alle Räumlichkeiten, über die Mselo-Tala-Tala verfügte.
In dem vollkommen dunkeln Vorderzimmer befand sich keine lebende Seele.
Khamis drückte ein Ohr an die nach dem zweiten Raume führende Thür, die diesen nur mangelhaft abschloß und da und dort einen Lichtstrahl hindurchdringen ließ.
Der Doctor Johausen befand sich in halb liegender Stellung in dem Hinterzimmer auf einem Sopha. Dieses Möbelstück und einige andere, die sich darin befanden, entstammten offenbar der Ausstattung der Käfighütte und waren jedenfalls mit deren Eigenthümer nach Ngala gebracht worden.
»Nun hinein!« sagte Max Huber.
Bei dem dadurch entstehenden Geräusch wendete der Doctor Johausen den Kopf nach der Thüre zu und richtete sich ein wenig auf. Vielleicht war er erst aus tiefem Schlafe aufgewacht. Jedenfalls schien das Auftauchen der Fremden auf ihn aber gar keinen Eindruck zu machen.
»Herr Doctor Johausen, begann John Cort in deutscher Sprache, meine Freunde und ich wollten sich erlauben, Eurer Majestät ihre Ehrerbietung zu bezeigen!«
Der Doctor gab keine Antwort. Sollte er die Anrede nicht verstanden haben? Hatte er nach dreijährigem Verweilen unter den Wagddis vielleicht seine Muttersprache verlernt?
»Verstehen Sie mich? fuhr John Cort fort. Wir sind Fremde, die mit Gewalt nach dem Dorfe Ngala geschleppt worden waren.«
Keine Antwort.
Der wagddiische Herrscher schien die Fremden anzustarren, ohne sie zu sehen, sie anzuhören, ohne sie zu verstehen. Er machte keine Bewegung, keine Geste, so als wäre er völlig stumpfsinnig.
Max Huber trat an ihn heran, ergriff ihn, wenig respectvoll gegenüber einem centralafrikanischen Herrscher, an den Schultern und schüttelte ihn tüchtig ab.
Seine Majestät schnitt eine Grimasse, wie sie der geübteste Mandrillaffe von Ubanghi nicht besser hätte fertig bringen können.
Max Huber schüttelte ihn noch einmal.
Seine Majestät steckte ihm die Zunge heraus.
»Ist er denn verrückt? fragte John Cort.
– So verrückt, wie nur einer sein kann,« erklärte Max Huber.
Ja… der Doctor Johausen war vollkommen geistesabwesend.
Schon bei seiner Abreise aus Kamerun ziemlich überspannt, hatte er nach seiner Ankunft in Ngala den Verstand vollends eingebüßt. Wer weiß auch, ob es nicht gerade diese geistige Entartung war, der er seine Erhebung zum Könige der Wagddis verdankte. Bei den Indianern des Fernen Westens, wie bei den Wilden Oceaniens, steht ja die Tollheit in höherem Werthe als die Weisheit, und bei diesen Eingebornen gilt der Narr für ein geheiligtes Wesen, für einen Träger göttlicher Allmacht.
Der arme Doctor Johausen hatte thatsächlich jede Spur von Verstand verloren. Das war’s, warum er sich um die Anwesenheit der vier Fremden im Dorfe nicht kümmerte, warum er in zweien von ihnen nicht Individuen seiner eigenen, von der wagddiischen doch so abweichenden Rasse erkannt hatte.
»Jetzt bleibt uns nur eins übrig, sagte Khamis. Auf eine Entschließung dieses Uebergeschnappten, uns die Freiheit wiederzugeben, können wir nicht rechnen…
– Nein… gewiß nicht! bestätigte John Cort.
– Und das halbthierische Volk hier wird uns nie hinwegziehen lassen, setzte Max Huber hinzu. Da sich nun einmal die Gelegenheit zur Flucht bietet, so wollen wir entfliehen…
– Und zwar augenblicklich, mahnte Khamis. Machen wir uns die Nacht zu nutze…
– Und den Zustand, in dem sich diese ganze Welt von Halbaffen befindet, bemerkte Max Huber.
– Kommt also, sagte Khamis, der sich schon nach dem Vorzimmer hin wendete. Wir wollen versuchen, die Leitertreppe zu finden und dann in den Wald entweichen.
– Ja, ja, erwiderte Max Huber, doch… der Doctor…
– Der Doctor? wiederholte Khamis.
– Wir können ihn doch nicht in seiner wagddiischen Souveränität hier seinem Schicksale überlassen. Es ist unsere Menschenpflicht, auch ihn zu retten.
– Ja, gewiß lieber Max, stimmte John Cort dem Freunde zu.
Der Unglückliche ist nur des Verstandes völlig beraubt… er leistet vielleicht Widerstand. Wenn er sich nun weigert, uns zu folgen?
– Wir wollen wenigstens den Versuch machen,« antwortete Max Huber, sich dem Doctor nähernd.
Khamis und John Cort traten auch herzu und ergriffen den Doctor an den Armen.
Dieser, noch immer ein sehr kräftiger Mann, stieß sie zurück und streckte sich, gleich einer Crustacee, die man auf den Rücken gewendet hat, mit den Beinen zappelnd wieder lang nieder.