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»Nein«, widersprach Mütterchen, »denn eure Magie ist lange schon dahin. Die Tarnkappe war nichts als ein Schatten eurer einstigen Macht. Aber es heißt, hoch oben im Norden ist der alte Zauber noch immer lebendig, in den Tiefen der eisigen Berge, wo dein Volk noch immer so mächtig ist wie früher.«

»Eines Tages werde ich dorthin gehen«, sagte Alberich kummervoll.

»Tu das, mein Freund. Aber erst erfülle deine Pflicht. Hüte den Hort des Nibelung. Und stärke dich mit der Kraft des Drachenblutes.«

Alberich sah zu ihr auf. »Ich danke dir, Freundin Mütterchen. Ich danke dir von tiefstem Herzen.«

Sie lächelte ihn an, und selbst Löwenzahn schwieg und trauerte im stillen. Trauerte um das versunkene Zwergengeschlecht vom Rhein.

Gegen Abend zog ein Gewitter auf. Im Osten über den Bergen erlosch das Licht, nur ein fahles Glimmen lag noch um die Bergkuppen und windgebeugten Wipfel der Wälder. Der Himmel wurde so dunkel, als hätte das Tageslicht ganz unverhofft seine ewige Schlacht gegen das Nachtschwarz verloren. Stürme jagten die Hänge herab und fuhren knirschend ins Gehölz. Das Wasser des Rheins schlug hohe Wogen und wurde weit über das Ufer gepeitscht.

Die Gefährten suchten Schutz im dichten Tann, zwischen stechenden Nadelhölzern, die auch den letzten Rest von Licht aussperrten. Rohland, das Pony, litt von allen am meisten, denn es mußte bei seiner Größe die meisten Stiche und Kratzer ertragen. Zudem ängstigte es sich vor all dem Donnern und Blitzen fast zu Tode. Mütterchen hatte ihre dürren Arme um Rohlands Hals gelegt und flüsterte ihm beruhigend ins Ohr. Die anderen aber zweifelten, ob das Tier die Worte bei diesem Lärm überhaupt hören, geschweige denn verstehen konnte.

Die Blitze zuckten immer häufiger, und das Donnern wurde zeitweise so laut, daß sie sich die Ohren zuhielten. Über die Himmelssplitter, die sie durch die Zweige erkennen konnten, zogen riesigen Wolkenburgen, und immer wieder sah es aus, als jagten Wesen hoch oben durch die Dunkelheit. Da waren Formen, die ähnelten Pferden und Reitern, und Löwenzahn murmelte ehrfürchtig:

»Die Wilde Jagd! Es ist die Wilde Jagd! Wodan führt seine Jäger an.«

Sie rückten enger aneinander. Mit göttlicher Willkür war nicht zu scherzen, das wußte ein jeder, und falls es wirklich Wodan war, der seine Jäger im wilden Himmelsritt über die Berge führte, dann war es angebracht, sich zu verstecken.

Plötzlich rief Mütterchen: »Seht doch, dort draußen!«

Zwerg und Riese folgten ihrem ausgestreckten Arm, der hinaus auf den Weg wies.

Eine Gestalt, kaum mehr als eine Silhouette, stemmte sich gebeugt gegen den Sturm. Sie war in einen bodenlangen grauen Mantel gehüllt und hatte eine spitze Kapuze über den Kopf geschlagen. Der Schein eines Blitzes zuckte über das Gesicht des Mannes. Ein schwarzes Band bedeckte sein linkes, blindes Auge. Ein buschiger Halsschmuck aus schwarzen Rabenfedern flatterte lautstark im Wind. Sie alle erbebten bei diesem Anblick.

Es war Wodan, der einäugige Gott, der oberste der Götter selbst, daran konnte es keinen Zweifel geben. Kein Mensch würde bei diesem Sturm seinen Weg fortsetzen, erst recht nicht, wenn die Wilde Jagd über den Himmel zog. Die Rabenfedern taten ein übriges, die Gefährten zu überzeugen, denn Raben waren des Gottes liebste Tiere.

Gebannt sahen sie der Gestalt nach, wie sie mühevoll gegen den Sturm ankämpfte und sich langsam nach Norden bewegte, auf demselben Weg, den auch sie nehmen würden. Wenig später war sie hinter den Bäumen verschwunden.

Der Schreck saß ihnen allen tief in den Knochen. Keiner rührte sich oder sagte ein Wort, bis wenig später der Sturm auf einen Schlag verebbte, und die Wilde Jagd vom Himmel verschwand. Noch immer herrschte Dämmerlicht, diffus und seltsam unwirklich, aber allmählich faßten die Freunde neuen Mut.

Mütterchen war die erste, die hinaus auf den Weg trat. Sie zog Rohland am Zügel mit sich. Das Pony schien höchst erfreut, dem stacheligen Gestrüpp entrinnen zu können, denn es wieherte vergnügt. Alberich war der nächste, der ins Freie kletterte, dann erst folgte Löwenzahn der Grausame. Unsicher blickte er den Weg entlang, ob der finstere Gott auf sie lauerte; doch die Gestalt, so sie denn wirklich dagewesen war, blieb verschwunden.

Mürrisch und wortkarg setzten sie ihren Weg fort. Sie zogen es vor, nicht mehr über die Erscheinung zu sprechen. Die Begegnung mit dem Gott mochte ein böses Omen sein, und sie zurück in ihre Erinnerung zu rufen würde die Sache nur noch schlimmer machen. Am besten war es wohl, den Vorfall gänzlich zu vergessen.

Sie wanderten bis lange nach Sonnenuntergang, dann erst suchten sie sich einen Platz für die Nacht. Diesmal, so entschieden sie, wollten sie nacheinander Wache halten, und die Reihe nahm ihren Anfang bei Alberich. Düster starrte er hinaus in die Dunkelheit, lauschte auf Löwenzahns Schnarchen, beobachtete im Feuerschein Mütterchens Gesicht und fand, daß sie im Schlaf noch älter aussah. Erstaunlich, wie wenig Mühe ihr der lange Marsch bereitete. Alberich war viel länger auf der Welt als sie, aber sie war nur ein Mensch, und dafür geradezu unglaublich rüstig. Er war froh, sie zur Freundin zu haben.

Nach einer Weile weckte er Löwenzahn und legte sich selbst zur Ruhe. Er träumte vom Hort und vom Rabengott, und immer wieder loderten Flammen durch seinen Schlaf. Einmal erwachte er und fragte sich, ob sie das alles nicht zu leichtnahmen. Doch bevor er noch eine Antwort finden konnte, war er abermals eingeschlafen, und am Morgen hatte er seine Zweifel verdrängt.

Am dritten Tag fanden sie den Sterbenden.

Mütterchen sagte gerade: »Mein Vorrat an Pfeifenkraut geht dem Ende entgegen.« Sie hatte viel geraucht, seit sie aufgebrochen waren, viel mehr als üblich. »Ich frage mich, wann wir zum nächsten Gasthaus kommen.«

Plötzlich deutete Löwenzahn mit dem Finger ans Ufer und sagte: »Da liegt jemand.«

Sogleich eilten sie vorwärts. Das Land fiel hier als schmaler Kiesstrand zum Wasser hin ab, und dort, inmitten eines Wirrwarrs aus Wasserpflanzen, war ein Mann angeschwemmt worden. Seine Kleidung war zerrissen, beinahe bis zur Nacktheit, und seine Augen blinzelten blicklos zur Sonne empor. Um seinen Hals hing an einem Lederband ein mächtiges Horn. Er war dunkelhaarig, noch jung, und obgleich das Wasser sein Blut abgewaschen hatten, entdeckten sie doch auf den ersten Blick die furchtbare Wunde, die seine linke Schulter gespalten hatte. Die Verletzung mußte von einer Axt oder einem Breitschwert stammen.

»Er lebt noch«, stellte Mütterchen fest, die sich als erste über ihn beugte.

»Nicht mehr lange, so wie’s aussieht«, bemerkte Löwenzahn trocken.

»Helft mir, ihn aus dem Wasser zu ziehen.« Mütterchen zerrte an seinen Armen. Ein Stöhnen entfuhr den bebenden Lippen des Mannes.

Löwenzahn drängte Mütterchen und Alberich beiseite und hob den Mann auf wie ein kleines Kind, quer über beide Arme. Dann ging er zurück zum Wegrand und legte den Sterbenden ins weiche Gras.

Alberich beäugte das alles mit zweifelnden Blicken.

Der Mann war des Todes, das war leicht zu erkennen, und jeder Augenblick, den sie hier zubrachten, war verschwendete Zeit. Trotzdem öffnete Alberich seinen Wasserschlauch und wollte ihn dem Mann an die Lippen führen. Mütterchen aber stieß ihn beiseite.

»Wasser hat er wahrlich genug bekommen, Dummkopf. Wer weiß, wie lange er im Wasser gelegen hat.«

Mit beleidigter Miene steckte Alberich den Schlauch wieder weg und verlegte sich fortan auf leises Gebrummel. Mit gerümpfter Nase sah er zu, wie Mütterchen auf die Brust des Mannes preßte, als könne sie so das Wasser aus seinen Lungen pumpen. Pure Zeitverschwendung.

Der Sterbende öffnete plötzlich den Mund und formte ein Wort. Keiner verstand, was er sagen wollte. Noch einmal versuchte er es, und diesmal hörten es alle.