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»Ist euch schon aufgefallen, daß es keine Boote auf dem Rhein gibt?« fragte Löwenzahn mit einemmal.

Mütterchen und Alberich ließen von ihren Sticheleien ab und sahen ihn an.

»Du hast recht«, sagte die Räuberin verwundert. Seit Anbeginn ihre Reise war ihnen kein einziges Fischerboot begegnet. Auch Flößer, die Holz flußabwärts in die baumlosen Länder brachten, waren nirgends zu sehen. »Es ist fast, als fürchteten sie sich vor etwas.«

»Vor dem Fluß?« fragte der Krieger stumpfsinnig.

Mütterchen hob die Schultern. »Oder vor etwas an seinem Ufer.«

»Was kann das sein? Der Drache ist doch tot«, sagte Löwenzahn.

»Ich habe das üble Gefühl, wir werden es noch in Erfahrung bringen.«

Alberich blieb stehen. »Dann laßt uns endlich den Weg verlassen und durch die Wälder ziehen.«

»Das wird Zeit kosten«, gab Mütterchen zu bedenken.

»Alles andere mag unser Leben kosten«, entgegnete Alberich schnippisch.

Die Räuberin zuckte mit den Achseln. »Es ist dein Hort.«

Löwenzahn mischte sich ein. »Und unser aller Leben.«

Damit war es beschlossene Sache. Sie schlugen sich vom Weg nach rechts, fünfzig, sechzig Schritt weit in die Wälder. Das Gelände stieg sanft bergan, und die Berge, die den Rhein rechts und links flankierten, rückten näher ans Flußbett. Der Boden wurde steiniger und steiler, und immer wieder mußten sie kleineren Schluchten und Spalten ausweichen. Felsnadeln wuchsen aus dem Waldboden empor, und vor allem das Pony hatte oft unter dem zerfurchten Grund zu leiden.

Es dämmerte bereits, als sie von einer Lichtung aus einen merkwürdigen Felskamm erblickten. Er erstreckte sich in einem weiten Bogen von den Bergen zu ihrer Rechten bis zum Ufer und versperrte ihnen somit den Weg. Seine steilen Hänge waren noch mehr als tausend Schritte entfernt, aber selbst aus der Entfernung wirkten die zerklüfteten Spitzen bedrohlich und angsteinflößend. Alles in allem mußten sie an die zweihundert Mannslängen hoch sein, fast ein kleines, Gebirge. Dabei waren die schroffen Felsgipfel auffallend regelmäßig angeordnet, eine nahezu vollkommene Reihe aus scharfen schwarzen Spitzen. Ihnen allen kam bei diesem Anblick der gleiche Gedanke: Es sah aus wie -

»Der Rücken eines Drachen!« stieß Löwenzahn aus.

»So groß?« Alberich stockte der Atem.

»Es sind nur Felsen«, beruhigte sie Mütterchen. »Ich kenne sie, ich war früher schon hier. Es stimmt, sie sehen aus wie die Zacken auf dem Rücken eines Lindwurms, aber tatsächlich gibt es dort nichts, das wir fürchten müßten.«

Alberich hatte Zweifel. »Wie lange ist es her, daß du hier warst? Hundert Jahre?«

»Hundert Jahre?« rief sie empört. »Für wie alt hältst du mich, Zwerg?«

Tatsächlich hatte er übersehen, daß hohes Alter bei Menschen - anders als bei Zwergen - nichts ist, mit dem man prahlt. Zudem hatte er nicht bedacht, daß das Große Volk keineswegs so lange lebte wie die steinalten Zwerge.

»Neunzig, vielleicht?« schränkte er kleinlaut ein.

Mütterchen hielt es für unter ihrer Würde, darauf zu antworten, und wandte sich statt dessen wieder dem seltsamen Felskamm zu. »Laßt uns weitergehen. Und stellt euch nicht an wie Hasenfüße.«

»Wohlan denn!« seufzte Löwenzahn und setzte seine Muskelmassen in Bewegung.

Auch Alberich folgte. Gemeinsam tauchten sie wieder unter das Blätterdach der Baumkronen, und die unheilvollen Felsspitzen verschwanden aus ihrem Blickfeld. Trotzdem war ihnen allen nicht wohl zumute, nicht einmal Mütterchen, die sich hier auskannte.

»Einst versteckte sich meine Bande in diesen Felsen vor Verfolgern«, erzählte sie, und die Besinnung auf Vergangenes ließ ihre Augen leuchten. »Ich führte meine Leute in eine Höhle, wo unsere Feinde uns nicht finden konnten. Nachdem sie vorübergezogen waren, stürmten wir hinaus und überfielen sie von hinten. Keiner von ihnen hat überlebt.«

»Wie ehrenvoll«, bemerkte Alberich bissig.

»Wir waren Räuber, mein Freund«, entgegnete Mütterchen ruhig. Die Erinnerung stimmte sie sanftmütig. An einem neuerlichen Wortgeplänkel lag ihr nichts. »Aber ich sage euch, diese Felsen eignen sich besser als Versteck als jeder andere Ort, den ich kenne.«

»Und zum Hinterhalt«, sagte Löwenzahn.

Bald schon wurde der Boden noch unwegsamer, und sie standen vor der Entscheidung, die Felswände hinaufzuklettern und das Pony zurückzulassen oder aber einen Pfad zu suchen, der, so es hier wirklich Wegelagerer gab, von diesen überwacht wurde.

Mütterchens Fürsprache war es zu verdanken, daß sie sich für die zweite Möglichkeit entschieden, denn die Räuberin achtete das Tier mehr und mehr als gleichwertiges Mitglied ihrer Gruppe. Mochten die anderen darüber lachen und schimpfen, sie aber stand zu Rohland, als sei er ihr teuerster Freund.

Sie wandten sich nach Westen in Richtung des Flußufers, und tatsächlich stießen sie schon bald auf einen Hohlweg, der sich zwischen hohen Felswänden und vornübergebeugten Bäumen hinauf zu den Gipfeln schlängelte.

»Es ist ein Fehler«, murmelte Alberich immer wieder zu sich selbst, »ein schlimmer Fehler.«

Zu ihrer Überraschung aber stellte sich ihnen niemand in den Weg, der Landstrich schien vollkommen menschenleer. Der Pfad endete in einem höhergelegenen Waldstück, wo sie ihren Weg aufgrund des besseren Geländes frei wählen konnten. Sie schlugen sich links ins Unterholz - sie wollten das Schicksal nicht gar zu offen herausfordern - und stiegen im Verborgenen weiter nach oben.

Plötzlich hielt Alberich inne, kniff die Augen zusammen und starrte angestrengt zu den Felstürmen empor.

»Seht, da sind Männer!« flüsterte er.

Ihre Blicke folgten seiner ausgestreckten Hand, und tatsächlich, da waren sie. Mindestens ein halbes Dutzend Krieger, auf dem oberen Felskamm verteilt. Gegen das Glutrot der untergehenden Sonne waren sie nicht mehr als schwarze Scherenschnitte, mit mächtigen Helmen und Brustharnischen, gestützt auf Hellebarden und Schwerter. Ihre weiten Umhänge flatterten im Abendwind, der flüsternd um die Felsklüfte strich.

»Da sind noch mehr«, sagte Löwenzahn leise und zeigte nach rechts und links. Die gesamte Felsenkette wurde von einer langen Reihe von Kriegern bewacht. Von den unteren Hängen aus waren sie nicht zu erkennen gewesen, nur ein paar weitere Erhebungen in der Schroffheit der Felsen; jetzt aber, von nahem, gab es keinen Zweifel, daß das gesamte Gelände streng bewacht wurde.

So leise wie möglich schlichen die Gefährten näher. Mütterchen schärfte dem Pony flüsternd ein, keinen Ton von sich zu geben, und Rohland hielt sich daran. Sogar seine Hufe verursachten kaum einen Laut. Alberich mußte sich eingestehen, daß Mütterchens Einfluß auf das Tier erstaunlich war.

Die Felswände der oberen Gipfel stiegen steil wie Burgmauern nach oben. Strickleitern und natürliche Treppenformationen erlaubten den Kriegern, auf ihre Aussichtsposten zu steigen. Sie würden eine Weile brauchen, um wieder nach unten zu klettern. Das mochte es den Gefährten ermöglichen, unbescholten über den Paß zu gelangen.

»Fällt euch etwas auf?« raunte Alberich plötzlich. Er besaß, trotz seines Alters, von allen die schärfsten Augen.

Die beiden anderen blieben stehen. Angestrengt blickten sie auf zu den Umrissen der Wächter.

»Was soll uns auffallen?« fragte Mütterchen unwirsch. Sie wollte so schnell wie möglich von hier verschwinden und hatte keinen Sinn fürs Rätselraten.

Alberich grinste. »Sie blicken in die andere Richtung«, sagte er.

Noch einmal blinzelten Löwenzahn und Mütterchen nach oben. Sie sahen nichts als schwarze Formen, ohne Tiefe, ohne Gesicht.

»Tun sie das?« fragte Löwenzahn schwerfällig.

»Ja, Schwachkopf«, gab Alberich zurück, stolz auf seine Entdeckung. »Sie bewachen die andere Seite der Felsen, nicht diese hier.«