»Und nun?« fragte Alberich verdrossen. Sechshundert Schritt weiter westlich strömte der Rhein im Licht des Sonnenuntergangs wie ein Lavastrom durch die Lande. Sein Verlauf wurde von der anbrechenden Nacht verschleiert.
»Wir warten bis zur Dunkelheit«, schlug Mütterchen vor.
»Bevor es Nacht wird, werden die Kerle von ihren Aussichtsposten steigen«, prophezeite Löwenzahn.
»Wenn wir nur wüßten, was sie bewachen«, sagte Mütterchen nachdenklich. »Könnt ihr jenseits der Wiese etwas erkennen? Alberich, du hast die besten Augen...«
Angestrengt starrte er über das Gras hinweg. Es war ein weitläufiger Hang, und sein Ende verschwand in neuerlichem Waldland. Im Dämmerlicht gab es nichts Außergewöhnliches zu entdecken.
Da zischte Löwenzahn: »Dort oben, da ist etwas!«
Anders als seine beiden Gefährten hatten der Riese seinen Blick nach Osten gewandt, nicht hinab ins Tal, sondern weiter hinauf in die Felsen.
Dort ragte, als düsterer Schemen vor dem Abendhimmel, ein hoher Turm auf, bedrohlich wie der Bergfried der mächtigsten Burg. Dieser aber stand für sich allein, umgeben von einer hohen, zinnenbewehrten Mauer.
Das Merkwürdigste war die Menschenschlange, die sich schweigend vom Waldrand bis zum offenen Tor der Felsenfestung erstreckte. Unablässig reichten die Männer und Frauen etwas von einem zum anderen - Eimer, wie es schien. Alberichs erster Gedanke war, daß es innerhalb der Festung brannte, und Löschwasser aus dem Tal zum Turm getragen wurde. Doch der rote Schein, der um die Mauern lag, stammte allein von der untergehenden Sonne. Von einem Feuer war weit und breit nichts zu sehen.
Noch eine weitere Beobachtung wollte nicht zum Bild einer Löschkette passen: Die Menschenschlange wurde von berittenen Kriegern bewacht, die schwerbewaffnet und mit klatschenden Peitschen Obacht gaben, daß nirgends eine Lücke entstand. Mindestens drei Dutzend Krieger patrouillierten an der Kette entlang den Hang auf und ab. Immer wieder ließen sie die Lederriemen auf ihre emsigen Opfer herabknallen.
»Deshalb bewachen sie nur die eine Seite der Felsen«, erkannte Mütterchen erschrocken. »Sie geben acht, daß keiner ihrer Sklaven über den Felskamm entkommt. Wanderer aber, die wie wir von der anderen Seite kommen, werden abgefangen und versklavt.«
»Dann war der Mann, den wir fanden, sicher einer, der ihnen entkam«, flüsterte Alberich.
»Er muß einem der Krieger das Horn gestohlen haben.«
Löwenzahn löste seinen Blick von den Arbeitern. »Darum ist der Fluß so leer. Die Krieger versklaven die Flößer.« Anders als Alberich und Mütterchen wirkte der Riese keineswegs entsetzt.
Vielleicht liegt es am Hunnenblut in Löwenzahns Adern, dachte Alberich geringschätzig. Für seinesgleichen waren Sklaven nichts Ungewöhnliches. Dann aber fiel ihm sein eigenes Volk ein, das in den Mienen und Schmieden des Hohlen Berges den Hort geschaffen hatte. War nicht er selbst ein Kind der Sklaverei? Schlimmer noch: Er ergab sich freiwillig seiner Rolle als letzter Sklave der Nibelungen. Treuer Horthüter? Von wegen. Er fügte sich ohne Peitsche in sein Schicksal, kämpfte gar darum, es aufrechtzuerhalten.
Vielleicht hätte er in diesem Moment den Sinn seiner Reise neu überdacht, vielleicht wäre er gar zu dem Schluß gekommen, daß dies der rechte Zeitpunkt war, um kehrtzumachen - wäre nicht plötzlich etwas geschehen, das ihn aus seinen Grübeleien riß.
Hinter ihnen sagte eine Stimme: »Rührt euch nicht von der Stelle!«
Sie wirbelten trotzdem herum - und blickten geradewegs auf acht Drachenkrieger, die Schwerter und Armbrüste auf sie gerichtet hatten. Einer hatte die Zügel des unglücklichen Ponys ergriffen und zog es grob hinter die Reihe der Kämpfer. Die Drachenschädel auf ihren Wappen unterschieden sich deutlich in der Vollendung ihrer Ausführung. Es sah aus, als hätte sie jeder eigenhändig nach einer gemeinsamen Vorlage gezeichnet. Daß kein echter Künstler mit der Herstellung beauftragt worden war, war ein Hinweis darauf, daß das Wappen in aller Eile entstanden war, wahrscheinlich erst nach dem Tod des Untiers.
Löwenzahn stieß einen zornigen Schrei aus und wollte schon den Bihänder schwingen, aber Mütterchen hielt ihn zurück. »Laß ab, Freund, sie sind uns überlegen.«
Die acht Männer trugen Helme, durch deren Sehschlitze nur ihre Augenpartie zu erkennen war. Einer besaß einen schwarzen Helmbusch. Er schien der Anführer der Gruppe zu sein, denn er zeigte auf Alberich und fragte: »Wo habt ihr das her?«
Die Anrede »das« machte Alberich außerordentlich wütend, bis er begriff, daß nicht er, sondern das Horn vor seiner Brust gemeint war. Er ergriff es langsam mit beiden Händen und fragte scheinheilig: »Das hier?«
Der Drachenkrieger nickte. Dabei klirrte sein Helmrand auf den Stahlkragen des Brustpanzers. »Woher hast du es?« fragte er noch einmal. Offenbar nahm er an, daß die drei die Wirkung des Hornes nicht kannten, denn er verlangte nicht, daß sie es herausgaben. Noch nicht.
Alberichs Gedanken überschlugen sich. Er wußte, er gefährdete seine Freunde, aber welche Wahl blieb ihm schon?
Blitzschnell riß er das Horn an die Lippen und stieß mit aller Kraft hinein.
Die Wirkung war spektakulär.
Kaum ertönte der Klang des Hornes, da ließen die Krieger ihre Waffen fallen und schlugen die Hände vor die Ohren - die Schwierigkeit war, daß sie Helme trugen. Die Männer wälzten sich schreiend am Boden, klammerten die Finger um die Helme, unfähig, sie herabzureißen.
Mütterchen und Löwenzahn erging es nicht besser. Auch sie lagen im Gras, schrien und krümmten sich in Agonie.
Alberich nahm das Horn von den Lippen und wollte sich zu Mütterchen herabbeugen, wollte sie auf die Beine ziehen, um gemeinsam mit ihr dem gefallenen Riesen aufzuhelfen. Im selben Augenblick aber zischte etwas an seinem Gesicht vorbei und bohrte sich zwei Schritte neben ihm ins Gras. Ein Armbrustbolzen!
Es gelang ihm gerade noch, die drei Wächter auf den Felsen wahrzunehmen, die auf die Vorgänge am Boden aufmerksam geworden waren. Dann zuckten schon die nächsten Bolzen heran. Einer schlug nur einen Fingerbreit neben Mütterchens Kopf in den Boden, ein anderer verfehlte Alberichs Schulter.
Er hatte keine Wahl. Er mußte fliehen und die Gefährten zurücklassen. Die beiden waren wehrlos, man würde ihnen - hoffentlich - nichts antun. Er aber war so gut wie tot, wenn sie ihn fingen. Falls ihn nicht schon vorher ihre Bolzen durchbohrten.
Hakenschlagend floh Alberich den Hang hinunter. Zahllose Geschosse gruben sich rings um ihn ins Gras. Zum ersten Mal kam ihm seine geringe Größe zugute. Die Wächter hatten sichtliche Schwierigkeiten, ihr kleines, wendiges Ziel zu treffen.
Eine Stahlspitze schrammte an seiner Schulter vorüber, harmlos aber schmerzhaft. Alberich fluchte, rannte jedoch weiter. Das Horn wippte am Lederband auf und ab, die goldene Geißel an seinem Gürtel klimperte wie ein Glockenspiel.
Er hatte etwa die Hälfte der Wiese hinter sich gebracht, als der Pfeilhagel aufhörte. Im Laufen sah er sich um und erkannte den Grund: Eine Horde von Kriegern, acht oder neun, hatte seine Verfolgung aufgenommen. Es waren nicht die Männer von den Felsen, denn sie hatten keine Hörner dabei. Von der fernen Sklavenkette lösten sich mehrere Reiter und gaben ihren Pferden die Sporen. Aus dem Augenwinkel sah Alberich mindestens drei von ihnen, die im Galopp auf ihn zupreschten.
Seine kurzen Beine schmerzten vor Anstrengung, sie waren das Rennen nicht gewohnt. Unter Mühen erreichte er den Waldrand. Die letzten Sonnenstrahlen vermochten das Gebüsch nicht zu durchdringen, zwischen den Bäumen herrschte Dunkelheit. Wenn er seine Gegner ins Unterholz locken und dann noch einmal das Horn benutzen würde...