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Vor ihm teilten sich Büsche und Äste. Zwei Krieger sprangen auf ihn zu. Sie mußten im Wald auf Patrouille gewesen sein. Einer holte mit einer schartigen Axt aus, doch Alberich war schneller. Er ließ die Goldgeißel wirbeln und setzte gleichzeitig unter dem Hieb des Feindes hinweg. Die Axt sauste über ihn hinweg, die Bänder der Geißel schlangen sich um die Beine des Mannes. Alberich riß die Waffe mit einem Ruck nach hinten. Sein Gegner verlor den Halt und stürzte. Der zweite Krieger lernte aus dem Fehler seines Kameraden; statt den Zwerg zu unterschätzen und blindlings auf ihn einzuschlagen, nahm er sorgfältig eine Kampfstellung ein. Seine Augen hinter dem Sehschlitz blickten abwartend, lauerten auf eine Blöße. Damit aber gab er Alberich Zeit, das Horn zu ergreifen. Ein kurzer Stoß hinein, und schon lag der Krieger am Boden.

Es geht zu leicht, dachte Alberich unheilschwanger. Magie forderte oft einen Preis, und fraglos war der Zauber eines Drachen keine Ausnahme. Plötzlich fürchtete er sich vor dem Horn.

Bevor die Männer von der Wiese ihn erreichen konnten, setzte er sich erneut in Bewegung. So schnell er konnte hetzte er weiter, betete zu den Albenvätern, daß keine weiteren Krieger im Unterholz lauerten.

Aber seine Ahnen waren launische Wesen, und es schien ihnen zu gefallen, ihn von einem Unglück ins nächste zu stürzen. Mit einemmal stand er in einer schmalen Schneise im Wald. Die Sklavenkette vom Hang setzte sich hier unten fort, eine endlose Reihe von Menschen, die volle Wassereimer von Hand zu Hand weiterreichte. Wozu, verdammt, wurde all das Wasser in der Festung benötigt?

»He, Zwerg!« brüllte eine Stimme. Ein Krieger, der diesen Abschnitt der Kette bewachte, war auf Alberich aufmerksam geworden. Mit knallender Peitsche jagte er auf ihn zu.

Alberich warf sich herum und tauchte wieder ins Unterholz. Von überall her erklang jetzt das Bersten von Zweigen und Ästen. Er hätte anhalten und abermals ins Horn stoßen können, aber er fürchtete die Folgen; außerdem, wer sagte ihm denn, daß nicht einige der Männer ihre Ohren verstopft hatten? Wenn er jetzt haltmachte, würden sie ihn unweigerlich einholen und zur Strecke bringen.

Ganz in seiner Nähe bellten Hunde. In Gedanken sah er sich schon von scharfen Fängen zerfleischt, als sich der Wald plötzlich lichtete. Rotes Dämmerlicht schimmerte ihm entgegen. Er sprang zwischen den Stämmen hervor, verlor plötzlich den Boden unter den Füßen, stürzte nach vorne - und klatschte ins Wasser. Die Fluten des Rheins drangen von allen Seiten auf ihn ein, sogen ihn nach unten. In einem Wirbel aus Luftblasen tauchte er hinab, wurde von der Strömung gepackt und wieder nach oben gespült. Einen Augenblick lang drang sein Kopf ins Freie, er schnappte nach Atem und sah durch Wasserschlieren, daß die Krieger ihm vom Ufer aus nachblickten. Ob sie weitere Bolzen auf ihn abschossen, konnte er nicht erkennen, denn schon spülte die nächste Woge über ihn hinweg. Die goldene Brünne hätte ihn in die Tiefe gerissen, wäre es ihm nicht geistesgegenwärtig gelungen, ihre Riemen zu lösen. Der funkelnde Panzer trudelte abwärts in die Schwärze. Allein die Geißel hielt Alberich umklammert; sie war nicht schwer genug, ihn nach unten zu ziehen.

Irgendwie hielt er sich lange genug an der Oberfläche, um nicht zu ertrinken. Der Strom trug ihn nach Norden. Noch einmal sah er Menschen am Ufer - das Ende der Sklavenkette -, dann schloß er die Augen und ließ sich treiben.

Einige Zeit verging, in der er nicht wußte, was er tun sollte. Er mußte wieder an Land, natürlich, aber nicht so nah am Gebiet der Drachenkrieger. Vielleicht sollte er erst den Blutsee suchen und darin baden, um dann unverwundbar zurückzukehren und die Freunde zu befreien. Aber was, wenn es den Drachen und sein Blut gar nicht gab? Wenn sie alle einem Gerücht aufgesessen waren?

Nein, dachte er, ich muß sofort umkehren. Das bin ich Mütterchen und Löwenzahn schuldig.

Schließlich glaubte er sich weit genug von seinen Verfolgern entfernt, um zurück ans Ufer zu paddeln. Atemlos zog er sich auf festen Grund, blieb erschöpft im Schlamm liegen und schlief augenblicklich ein.

Irgendwann ließ der Schmerz nach. Mütterchen schlug die Augen auf und blickte unwillkürlich in das Gesicht des Riesen, der neben ihr am Boden lag. Löwenzahn hatte immer noch beide Hände auf die Ohren gepreßt. Seine Lider flatterten, aus seinem Mundwinkel perlte ein Speichelfaden.

Mütterchen sah sich um. Die Krieger, die sie gestellt hatten, lagen zuckend im Gras. Die Tatsache, daß es ihnen nicht gelungen war, die Helme abzustreifen und sich die Ohren zuzuhalten, hatte dafür gesorgt, daß der Klang des Horns sie weit schlimmer getroffen hatte als Löwenzahn und sie selbst.

Von Alberich war weit und breit keine Spur zu entdecken. Er war geflohen, der Lump! Aber welche Wahl hatte er schon gehabt? Mütterchen mußte sich eingestehen, daß er richtig gehandelt hatte.

Gerade wollte sie sich aufsetzen und Löwenzahn zu Hilfe eilen, als sich etwas Kühles von hinten auf ihre Schulter legte. Eine Schwertklinge!

»Na, na, na«, höhnte eine rauhe Stimme. »Wohin denn so eilig, alte Hexe?«

Mütterchen bekämpfte tapfer den Drang, eine passende Antwort zu geben. Statt dessen schwieg sie verbissen und fügte sich in ihr Schicksal.

Wenig später wurden sie von einem Trupp Drachenkrieger nach Osten zur Festung geführt. Je näher der Turm und seine hohe Ummauerung rückten, desto bedrohlicher schienen sie. Dünne schwarze Rauchfahnen stiegen hinter dem Steinwall zum Nachthimmel; sie waren nur zu erkennen, weil sie von unten durch flackernden Feuerschein erhellt wurden. Der Innenhof war erleuchtet.

Die Krieger trieben ihre beiden Gefangenen mit Hieben und Tritten zum Tor der Festung. Vor allem Löwenzahn mußte einige Martern ertragen, denn die Männer hatten seine Abstammung erkannt, und wenn es eines gab, das allen Menschen am Rhein gemeinsam war, dann war es der Haß auf die Hunnen. Mütterchen wunderte sich, daß sie Löwenzahn nicht gleich erschlugen. Andererseits würde er einen kräftigen Arbeiter abgeben.

Die Sklavenkette wurde auch bei Nacht nicht unterbrochen. Unablässig wurde Eimer auf Eimer in die Festung gereicht. Viele der Männer und Frauen starrten stumpfsinnig ins Dunkel, griffen ohne hinzusehen nach den Eimern ihrer Nebenmänner und gaben sie weiter. Mütterchen fragte sich voller Abscheu, wie lange das alles schon so gehen mochte. Nicht einmal während ihrer Zeit als Räuberin hatte sie sich mit Sklaverei abgegeben. Sicher, sie hatte gemordet und gemeuchelt, ehrlich und aus dem Hinterhalt, aber niemals hatte sie eines ihrer Opfer derart gedemütigt.

Als sie durchs Tor getrieben wurden, war das erste, was Mütterchen sah, eine Kolonne von Pferdewagen, auf die alle Eimer nach ihrer Entleerung geworfen wurden. In regelmäßigen Abständen machte sich einer der Karren auf den Weg ins Tal und brachte die Gefäße hinunter zum Fluß. So umging man die Notwendigkeit, eine zweite Menschenkette einzurichten, um die leeren Eimer zurück zum Ufer zu schaffen.

Im Innenhof der Festung wimmelte es von Menschen. Im Schein zahlloser Feuerbecken gabelte sich die Sklavenkette in drei Stränge, die fächerförmig auseinanderführten. Sie endeten an drei merkwürdigen Holzkonstruktionen, die Mütterchen auf den ersten Blick für Brunnen hielt. Es waren riesige Seilwinden, gestützt von je vier Holzbalken, fast so hoch wie ein Haus. Unter ihnen klafften Löcher im Boden, in denen armdicke Seile verschwanden. Aus der Tiefe erklang der Lärm von Spitzhacken. Aus irgendwelchen Gründen wurden die Sklaven gezwungen, an diesen drei Stellen Schächte in den Fels zu treiben. Dabei wurden sie von oben permanent mit Wasser begossen, Eimer um Eimer.

Mütterchen wandte sich an einen ihrer Bewacher. »Welchen Sinn hat es, das Wasser hierher zu schaffen, um es dann wieder hinab in die Brunnen zu gießen?«

Statt einer Antwort hieb der Mann ihr die Hand ins Kreuz. Mütterchen ging mit einem dumpfen Stöhnen zu Boden. Sogleich wirbelte Löwenzahn herum, seine Faust traf einen der Bewacher unter den Rippen. Einen anderen schickte er mit einem kräftigen Tritt in den Schmutz. Ehe die anderen reagieren konnten, war er bereits bei Mütterchen und half ihr auf die Beine. Kaum hatte sie sich aufgerichtet, da fiel auch schon ein halbes Dutzend Krieger über Löwenzahn her und begrub ihn unter sich. Fäuste und Schwertknäufe hagelten auf den gefällten Riesen herab. Mütterchen blinzelte durch Tränenschleier zu dem hilflosen Freund hinüber, unfähig ihm beizustehen, als plötzlich eine Stimme über das Chaos hinwegschrie: