Выбрать главу

Löwenzahn seufzte. »Verstehe gar nichts«, flüsterte er Mütterchen zu. »Weißt du, was sie meint?«

Die alte Räuberin nickte flüchtig. »Ugo ist wahnsinnig, jeder hier weiß das. Seine Familie hielt ihn gefangen, damit er kein Unheil anrichten konnte. Ein Vetter regierte für ihn die Ländereien.« Sie betrachtete das kranke Mädchen mitleidsvoll. »Ich glaube, Marret war eine Dienerin im Schloß, der man den Befehl gab, sich um Ugo zu kümmern. Liebe Güte, dabei ist sie doch fast noch ein Kind. Wer weiß, wie lange sie schon seiner Willkür ausgesetzt war...«

»Viele Jahre«, warf Marret unvermittelt ein. Sie hatte ganz genau zugehört, was Mütterchen sagte. »Seit meinem neunten Jahr. Ugo ist nur ein wenig älter als ich.« Sie kicherte verspielt. »Und ein wenig dicker, aber das mag er nicht gern hören.« Abermals stimmte sie ein Lied an:

Auf einem gelben Butterberg,

Da saß ein großer dicker Zwerg.

Da kam die Sonne eins zwei drei,

Und schmolz den Butterberg entzwei.

O weh, der Schreck, da war er weg.

Löwenzahn lachte roh, trotz der Schmerzen, die in seinem Gesicht loderten. »Das merk’ ich mir für Alberich.«

Mütterchen schalt ihn mit einem finsteren Blick. Dann wandte sie sich wieder an Marret. »Irgendwie hat Ugo sich befreit, nicht wahr? Oder wurde befreit. War es nicht so?«

»Ja, o ja«, gab das Mädchen zurück. »Er war sehr böse mit mir, hat gesagt, ich hätte ihn eingesperrt.«

Mütterchen atmete tief durch. »Weil er immer nur dich zu sehen bekam, gab er dir in seinem Wahn die Schuld.«

»Zahlt’s mir zurück, hat er gesagt.« Plötzlich schluchzte sie herzzerreißend. »Dabei war ich doch immer gut zu ihm, immer freundlich, immer nett. Sogar wenn er die Suppe auf den Boden goß, sogar wenn er sich schmutzig machte. Marret hat alles weggewischt, hat ihn gewaschen, den kleinen Ugo.« Sie weinte jetzt bitterlich. »Jetzt ist er böse zu mir, läßt mich leiden, sagt er.«

Mütterchen rückte näher an sie heran und streichelte sanft über ihr verfilztes Haar. Marrets Schicksal erschütterte sie. Erst war sie von ihren grausamen Herren genötigt worden, ganz allein für einen Wahnsinnigen zu sorgen, und dann wurde sie so entsetzlich dafür bestraft, bis gar ihr eigener Verstand dahinschwand.

Sie legte Marrets Kopf in ihren Schoß und drückte und streichelte sie, bis ihre Tränen versiegten. Dann fragte sie sanft: »Wie ist Ugo entkommen?«

Marret schniefte. »Männer kamen, Männer befreiten ihn. Viele im Schloß wurden getötet, der Herr, die Herrin, viele andere. Seitdem ist Klein-Ugo der Herr. Graf Ugo - das klingt schön, nicht wahr?.«

»Schön, ja«, entgegnete Mütterchen unsicher. »Sag, Marret, diese Männer, die Ugo befreiten, waren das die dort draußen im Hof? Die Krieger mit den Drachenköpfen auf der Brust?«

»Ja. Sie machten Ugo zum Herrn der Burg, und danach brachten sie ihn hierher.«

Mütterchen wußte, daß das Stammschloß des Grafen eine halbe Tagesreise von hier entfernt lag. Dieser Turm mußte ein alter Grenzposten seiner Ländereien sein. Plötzlich glaubte sie die Hintergründe des Ganzen zu begreifen, wenigstens einen Teil davon.

»Kennst du den, den sie den Geweihten nennen?« fragte sie das Mädchen.

Marrets Augen weiteten sich angstvoll. »So ein böser Mann! So schlecht, so gemein!«

»Ja, mein Kind, das ist er ganz bestimmt«, sagte Mütterchen. Der Geweihte mußte den irrsinnigen Ugo befreit haben, um ihn für seine eigenen Zwecke auszunutzen. Sie zweifelte nicht, daß der Graf nur eine Puppe in den Klauen seines Erlösers war. Und das Schlimmste daran war, daß der Geweihte nicht einmal gegen des Königs Recht verstoßen hatte, denn Ugo war der rechtmäßige Graf. Die Verwandten des Jungen hatten dessen Krankheit genutzt, um die Macht im Schloß an sich zu reißen. Nicht einmal König Dankrat, so er überhaupt davon erfahren hatte, konnte die Ansprüche Ugos für ungültig erklären.

Wer aber war der Geweihte? Falls er ein Räuber war, so hatte Mütterchen noch nie von ihm gehört.

Sie überlegte, ob sie Marret noch weitere Fragen stellen sollte, dann aber sagte sie sich, daß sie das Mädchen nur unnötig mit bösen Erinnerungen quälte. Die Kleine hatte schon genug erdulden müssen.

Mütterchen hing noch ihren Gedanken nach, als Löwenzahn rief: »Da draußen tut sich was!« Er hatte beide Hände um das Gitter geklammert und starrte aufmerksam in den Hof.

Die Räuberin bettete Marrets Kopf sachte ins Stroh, dann eilte sie an Löwenzahns Seite. Von hier aus konnten sie jenseits der Feuerbecken und Seilwinden gerade noch das Tor der Ummauerung erkennen. Männer mit Drachenwappen auf der Brust, aber ohne Helm und Rüstzeug, trugen drei mächtige Hirsche herein, gewaltige Tiere, die kopfüber an langen Holzstangen hingen. Alle drei wiesen tödliche Wunden auf, die zu groß waren, um von Pfeilen zu stammen, und zu sauber, als daß Hunde sie hätten reißen können. Die Tiere waren im Nahkampf mit dem Schwert erlegt worden.

Hinter den Trägern ritt eine finstere Gestalt in den Hof, in seinem Gefolge ein gutes Dutzend Krieger. Der Geweihte war zurückgekehrt.

Mütterchen versuchte vergebens, Einzelheiten zu erkennen. Erst als der Mann sich einem Feuer näherte und dort sein Pferd zügelte, um gefällig das Sklavenheer zu überblicken, konnte sie ihn deutlicher sehen.

Ihr Atem stockte, als sie begriff, warum man ihn den Geweihten nannte.

Kapitel 3

Eine Melodie säuselte durch Alberichs Schädel. Er hatte sie nie zuvor gehört, und doch klang sie seltsam vertraut. Er wußte genau, daß er sie nicht kannte, denn er besaß einen Sinn für Musik, konnte manche Melodien schon nach dem ersten Hören auf Leier oder Flöte nachspielen. Oftmals hatte er sich so in den Tiefen des Hohlen Berges die Langeweile vertrieben, bei Spiel und Gesang der Lieder seiner Ahnen, bei der Besinnung auf Verse und Klangfolgen, die er zum letzten Mal vernommen hatte, als er noch Kind und der Hohle Berg nicht leergefegt von allem Leben war.

Aber diese Melodie, die jetzt durch seine Gedanken geisterte, schien ihm von anderer Natur. Sie hatte etwas sehr Fremdartiges, klang aber zugleich, als vereinten sich in ihr alle Töne, die jemals erklungen waren. Es war eine magische Melodie, daran hatte Alberich bald keine Zweifel mehr, und er wußte auch, daß sie mit dem Horn zusammenhing. Wollte es, daß er sie nachspielte? Konnte ein Horn überhaupt etwas wollen, so wie ein Mensch? Immerhin war es einmal der Fangzahn eines Drachen gewesen, vorausgesetzt Löwenzahns Vermutung war richtig. Und auch daran zweifelte Alberich nicht mehr.

Immer wieder erklang die Melodie in seinem Kopf, schwirrte in Höhen, sank in Tiefen, um schließlich von neuem zu beginnen.

Und dann erwachte er, und die Musik war fort.

Er wußte, daß er die Melodie geträumt hatte, wußte es ganz genau, aber er vermochte sich nicht an ihren genauen Klang zu erinnern, und das verstörte ihn.

Mehr noch beunruhigte ihn, daß er überhaupt eingeschlafen war. Seit er im Uferschlamm aufgewacht war und sich auf den Weg zurück zum Turm gemacht hatte, war kaum die halbe Nacht vergangen. Und trotzdem war er in der mächtigen Wurzel einer Eiche zusammengesunken und der Wirklichkeit entrückt. Wie lange, das vermochte er nicht zu sagen. Aber es war noch immer dunkel, und der Mond stand hoch hinter ziehenden Wolkenfetzen, so daß er annehmen durfte, es war nicht für lange gewesen.

Und wenn der Schlaf wie die Melodie von Magie verursacht war? Wenn er nicht wenige Augenblicke, sondern ganze Tage, Wochen oder Jahre verschlafen hatte?

Nein, sagte er sich mit klopfendem Herzen, wenn du anfängst, dir selbst Angst einzujagen, dann kannst du gleich aufgeben. Geh einfach zum nächstbesten Drachenkrieger und stell dich. Es wird schnell gehen, hoffentlich.