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Die Finsternis machte ihm zu schaffen, mehr als er zugeben wollte, denn es war die Dunkelheit der Wälder, nicht jene heilsame, wohlige Schwärze der Bergestiefen. Wieder einmal wurde ihm klar, daß Zwerge nicht für Reisen geschaffen waren, schon gar nicht für Reisen unter freiem Himmel. Als die Überlebenden seines Volkes nach Norden gezogen waren, hatten sie die geheimen Pfade unter der Erde benutzt, Wege, die seit langer Zeit vergessen waren. Aber Wälder? Das waren Orte für Menschen und Feen und anderes Gelichter.

Alberich hatte angenommen, daß er schnurstracks in Richtung des Felsenkamms marschiert war, fern vom bewachten Ufer unterhalb der Bergausläufer, und so wunderte er sich allmählich, daß noch immer keine Spur von den Drachenkriegern und dem Turm zu sehen war.

Er schüttelte den Kopf so heftig, daß ihm der Bart um die Ohren wehte, in der Hoffnung, die Erinnerung an die unheimliche Traummelodie vertreiben zu können. Vielleicht war er deshalb so unsicher. Möglicherweise war es die Magie der Zaubermusik und somit die des Horns, die ihn in solche Verwirrung trieb.

Doch letztlich war es gleich, wo die Ursache lag, denn nur wenig später, am Fuß einer Fichtenreihe, mußte er sich griesgrämig eingestehen, daß er sich verlaufen hatte. Zwar hörte er noch das Rauschen des Rheins, aber es war ihm unmöglich, die Richtung zu erkennen, aus der es an seine Ohren drang. Hatte sich der Klang des Horns bereits auf seine Wahrnehmung ausgewirkt? Machte er ihn taub für irdische Töne, damit es ihm besser gelang, die Melodie in seinem Inneren zu vernehmen?

Eisige Furcht ließ sein Herz gefrieren, und doch wagte er nicht, das Horn einfach fortzuwerfen. Es mochte ihm noch nützlich sein. Zudem: Wenn es all die Krieger auf den Felsen getragen hatten, ohne dadurch Schaden zu nehmen, warum sollte dann ihm eine Gefahr davon drohen?

Aber er war ein Zwerg, kein Mensch, und Zwerge waren von Natur aus Geschöpfe der Magie. Alberich wußte das, wußte es mit völliger Gewißheit, und doch tat er sein Möglichstes, den Gedanken daran zu verdrängen.

Mehrfach hatte er geglaubt, hinter sich in der Dunkelheit Schritte zu hören, das Splittern von Zweigen und das Rascheln gefallenen Laubes. Wölfe, dachte er zitternd, Wölfe oder Schlimmeres. Aber immer wieder waren die Laute verschwunden, und das sprach gegen wilde Tiere oder Feinde. Schließlich hatte er sich gesagt, daß es nur der Wind und seine Einbildung waren.

Jetzt aber hörte er die Geräusche erneut, und diesmal klangen sie näher. Alberich befand sich oberhalb eines dichtbewachsenen Hanges. Hier oben standen zahlreiche Fichten, hohe, mächtige Bäume, deren alte Nadeln knöchelhoch den Boden bedeckten. Sie dämpften seine Schritte, und dasselbe hätten sie auch bei jedem Verfolger tun müssen. Daraus wiederum schloß er, daß derjenige, der die Laute verursachte, sich nicht in gerader Linie hinter ihm befand, sondern weiter unten im Dickicht des Abhangs.

Wären es Drachenkrieger gewesen, hätten sie ihn zweifellos sofort angegriffen, spätestens als er unter der Eiche eingeschlafen war. Im Grunde galt das für jeden, der sich die Mühe machte, seiner Fährte zu folgen, ganz gleich ob Wegelagerer oder hungriges Tier.

Warum aber sollte ihn jemand verfolgen, ohne ihn anzugreifen? Was glaubte derjenige, wohin Alberich ihn führen würde?

Er zögerte nicht länger und fuhr herum. Die Goldgeißel klirrte kampfbereit in seiner Rechten.

»Wer ist da?« fragte er leise, fast flüsternd. Falls außer dem Verfolger auch Krieger in der Nähe waren, wollte er sie nicht auf sich aufmerksam machen.

Er bekam keine Antwort. Einen Augenblick lang überlegte er, ob er ins Dickicht vordringen und den anderen aufscheuchen sollte, entschied aber dann, daß ihm dafür keine Zeit blieb. Die Gefangennahme seiner Gefährten verzögerte ihre Suche nach dem Drachen ohnehin über alle Maßen, und allmählich bezweifelte er, ob sie überhaupt je zum Ziel kommen würden.

Noch einmal zischte er grimmig: »Wer immer da unten ist, er möge herauskommen, sonst wird er meine Waffe schmecken!«

Das war nun wirklich eine erbärmliche Drohung, aber zu seinem größten Erstaunen zeigte sie Wirkung.

In der verschlungenen Finsternis der Büsche und Ranken, die den Hang bedeckten, regte sich etwas. Hinter einem Gestrüpp erschien etwas Helles, erst ein Arm, dann ein zweiter. Mit friedfertig erhobenen Händen trat schließlich eine Gestalt ins fahle Mondlicht.

Sie war von Kopf bis Fuß in schmutzigweiße Bandagen gewickelt, wie ein Toter, der sich ein letztes Mal aus seinem Steinsarg erhob. Einen Moment lang hielt Alberich das Wesen genau dafür - für einen Toten, ein Gespenst. Sein Atem stockte, und die Kugeln der Geißel klingelten verräterisch, so zittrig waren seine Hände.

Die weiße Erscheinung regte sich nicht, stand einfach nur da. Wo die Augen sein mußten, war aus der Entfernung nur ein dunkler Spalt zwischen den Verbänden zu erkennen.

Alberich sandte ein Stoßgebet zu seinen Ahnen. Vergessen war die Tatsache, daß ihm solches Flehen in den letzten Tagen nur Unglück eingehandelt hatte.

Den Drachenkriegern wäre ich kühn entgegengetreten, dachte er, aber einem Gespenst? Ausgerechnet hier, in fremden Wäldern, mitten in der Nacht? O nein, niemals!

Und während er sich noch überlegte, wie er sich am schnellsten und wirkungsvollsten aus dem Staub machen könnte, beschlich ihn plötzlich eine Ahnung. Natürlich, dachte er überrascht, er ist es!

»Du bist... der Geist«, entfuhr es ihm. Tatsächlich sah die Gestalt dem seltsamen Schemen, der im Tann rund um den Wolfswinkel spukte, täuschend ähnlich.

Das unheimliche Wesen rührte sich auch jetzt nicht, stand immer noch mit hochgestreckten Armen da wie eine weißbandagierte Vogelscheuche. Der Zwerg konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Geist sich viel mehr vor ihm fürchtete als umgekehrt.

»Bist du uns den ganzen Weg gefolgt?« fragte Alberich halb verwirrt, halb ärgerlich.

Noch immer kam keine Antwort.

Alberich seufzte. »Nun nimm schon die Arme runter und komm her«, verlangte er mürrisch. Er erinnerte sich, daß Obbo Stein und Bein geschworen hatte, daß der Geist niemandem Böses wollte. Dein Wort in der Albenväter Ohr, dachte Alberich.

Der Geist senkte zögerlich die Hände und kam langsam durchs Gebüsch auf ihn zu. Dabei verhedderten sich seine Tücher und Verbände bei jedem Schritt in Dornen und Ästen, und es dauerte eine Weile, bis er zwei Mannslängen (oder vier Zwerglängen) vor Alberich stehenblieb.

»Was willst du hier, Geist?« fragte Alberich, der nur an die wertvolle Zeit denken konnte, die er unnütz vertat.

»Ich bin kein Geist«, drang es leise unter den Binden hervor. Es war das erste Mal, daß irgendwer das Wesen sprechen hörte. Seine Stimme klang ungewöhnlich sanft, fast traurig.

Alberichs linke Augenbraue rückte mißtrauisch nach oben. »Kein Geist? Aber du siehst aus wie einer.«

»Ich bin ein Mensch wie du«, erwiderte die Gestalt sehr scheu, nicht ahnend, daß dies das Schlimmste war, was sie hätte sagen können.

»Ein Mensch wie ich?« wiederholte Alberich fassungslos. »Ein Mensch? Sehe ich etwa so aus?«

Der Geist, der keiner sein wollte, nickte zaghaft. »Ein kleiner Mensch, sehr klein.«

Alberichs Faust krampfte sich um den Griff der Goldgeißel. »Hast du nie vom stolzen Volk der Zwerge sprechen hören?« fragte er unter Aufbietung aller Geduld.

Das Wesen schüttelte den Kopf. Dabei spiegelte sich das Mondlicht einen Herzschlag lang in klaren blauen Augen. »Niemand spricht mit mir, schon lange, lange Zeit nicht mehr. Also bist du kein Mensch?«

»Nein«, gab Alberich dumpf zurück. »Aber sag mir endlich, warum du mir folgst. Ich habe keine Zeit für Mätzchen.«

Der Geist verschränkte schüchtern die Hände hinterm Rücken und trat aufgeregt von einem Bein aufs andere. »Ich hab’ gehört, über was ihr im Wirtshaus gesprochen habt.« Alberich war plötzlich sicher, daß das Wesen mit weiblicher Stimme sprach.