»Ich hab’s mir angeschaut«, erklärte Geist. »Die Klippe springt weit vor, wie ein riesiger Vogelschnabel. Die Krieger haben an den Seilen Männer herabgelassen, die von unten einen Stollen in den Fels treiben. Offenbar ist der Weg von dort aus zu den tieferen Regionen des Blutsees kürzer, als würden sie es von oben versuchen.«
Alberich nickte nachdenklich. »Und da sie die Arbeit von Sklaven verrichten lassen, ist ihnen die Gefahr, in der die Arbeiter schweben, gleichgültig.«
»Sie haben unterhalb des Stollens ein hölzernes Auffangbecken in der Felswand verankert, das gewährleisten soll, daß kein Tropfen des Drachenblutes verlorengeht.«
Der Zwerg spähte über die Kante hinweg in die pechschwarze Nacht. »Wie hoch über dem Rhein sind wir hier?«
Geist hob die Schultern. »Zwanzig bis dreißig Mannslängen, grob geschätzt.«
»Und der Fluß strömt direkt um den Fuß der Felsen?«
»Soweit ich es sehen konnte, ja. Der Rhein macht einen engen Bogen, genau um diese Klippe.«
Alberich seufzte schwer. »Wie sollen wir jemals an das Blut herankommen, wenn es nicht einmal all diesen Männern gelingt?«
»Sie werden es schaffen«, ermutigte ihn Geist. »Früher oder später wird ihr Stollen den Grund des Blutsees erreichen.«
»Du meinst, wir sollten warten, und dann versuchen, ihnen das Blut abzuluchsen?« Alberich stöhnte. »Es sind so viele! Sie werden uns erschlagen, wenn sie nur unsere Nasenspitzen sehen, erst recht, wenn wir hinüberspazieren und höflich um ein Faß von ihrem Drachenblut bitten.«
Geist nickte. »Sie sind ungeduldig. Die Krieger vermuteten, daß die Kruste des Sees immer dicker wird, bis schließlich auch der letzte Tropfen davon aufgezehrt wird. Die Zeit drängt, und ihr Anführer ist unzufrieden.«
Noch einmal blickte Alberich zur erstarrten Oberfläche des Blutsees hinüber. Sie war fast kreisrund, mit einem Durchmesser von fünfzehn Menschenschritten. Was aber die Tiefe des Sees anging, so gab es auf sie keinen Hinweis. Da die Krieger versuchten, von unten zum Drachenblut vorzustoßen, war anzunehmen, daß das Becken etliche Schritte in den Boden reichte.
Plötzlich fiel Alberich etwas auf, und der Gedanke schürte neues Mißtrauen gegen seine Begleiterin in ihm. »Woher weißt du soviel über diese Männer? Du hast gesagt, du warst hier, als ich schlief. Aber als ich erwachte, war der Mond nur unmerklich weitergewandert. Du kannst also gar keine Zeit gehabt haben, dich so genau umzuschauen.« Instinktiv rückte er einen weiteren Schritt von ihr fort und faßte den Griff der Goldgeißel fester.
Ihre Augen musterten ihn voller Verwunderung. »Keine Zeit gehabt?« wiederholte sie irritiert. »Du hast einen ganzen Tag verschlafen, Alberich. Als du aufgewacht bist, war bereits die nächste Nacht angebrochen. Weißt du das denn nicht?«
»Ist das wahr?« fragte er voller Argwohn. Und zugleich dämmerte ihm, was das bedeuten mußte. »Heißt das, Mütterchen und Löwenzahn sind schon mehr als einen Tag in der Gewalt dieser Krieger?«
»Aber ja.«
Er sprang auf, jetzt wieder im Schutz des Findlings. »Ich muß sofort zu ihnen. Wer weiß, ob sie noch am Leben sind.«
Geist zuckte mit den Achseln. »So wie es aussieht, können wir hier ohnehin nichts tun als abzuwarten.«
Alberich wollte bereits loseilen, doch Geist rief ihn leise zurück. »Warte! Es gibt einen schnelleren Weg als den auf deinen kurzen Beinen.«
»Kurzen, kräftigen Beine«, verbesserte er beleidigt.
»Sieh mal zur Höhle hinüber.«
Der Zwerg kauerte sich wieder in einigem Abstand von Geist auf den Boden und folgte mit seinem Blick ihrer weißverhüllten Hand.
»Kannst du es sehen?« fragte sie.
Angestrengt starrte er zum Höhlenschlund. Das Innere war rabenschwarz. In der Finsternis regte sich etwas, ohne daß Alberich erkennen konnte, was es war.
»Was machen die da?«
»Sie plündern die Schätze des Drachen«, sagte Geist und sah sich vorsichtshalber nach dem Wächter um, der ihnen am nächsten stand. Er stützte sich schwer auf seine Lanze, blickte dabei zu Boden und hatte ihr Flüstern nicht bemerkt. Offenbar war er im Stehen eingeschlafen.
»In regelmäßigen Abständen fahren Pferdekarren in die Höhle und kommen mit Erdreich beladen wieder heraus«, fuhr das Mädchen fort. »Darunter versteckt liegt das Gold des Drachen. Sie bringen es von hier aus zum Turm, wo deine Freunde gefangengehalten werden.«
»Du glaubst, wenn wir freundlich fragen nehmen sie uns vielleicht mit?«
»Die Karren werden nicht bewacht. Es soll keiner auf den Einfall kommen, es könne sich etwas Wertvolles unter all dem Dreck verbergen. Wenn wir den nächsten Wagen irgendwo am Weg erwarten und es uns gelingt, aufzuspringen, dann sind wir in einem Viertel der Zeit am Turm, besser noch, im Turm.«
»Narretei!« fuhr er sie an. »Man wird uns sofort auf dem Karren entdecken. Oder willst du dich in die Erde graben?«
Wieder verschoben sich die Binden vor ihrem Gesicht, als sie leise lachte. »Das laß nur meine Sorge sein.«
Er blickte sie ohne rechtes Zutrauen an. »Das ist ein ziemlich vager Plan, Kindchen.«
»Verlaß dich nur auf mich.«
»Du machst es einem nicht leicht.«
»Das weiß ich.«
Er verkniff sich ein zwergisches »Hmpf!«, dann nickte er zögerlich. »Na, schön«, sagte er leise. »Ich bin neugierig.«
Sie kicherte nur und lief lautlos zurück ins Gebüsch.
Wenig später hockten sie unweit eines Waldweges in dornigem Dickicht. Ein besonders scheußlicher Stachel, so lang wie ein Finger, ragte unweit von Alberichs Gesicht aus den Büschen. Bei jeder Bewegung drohte er sich in seine Nasenknolle zu bohren. Der Zwerg fluchte leise.
»Psst!« flüsterte Geist und hob einen umwickelten Finger vors Gesicht. »Mach nicht so einen Krach.«
»Du hast gut reden«, zeterte er. »Es ist ja auch nicht deine Nase, die fast aufgespießt wird.«
»Wenn du weiter so schreist, wird es nicht nur deine Nase sein, die man aufspießt.«
Geist hatte ihn in einem weiten Bogen um die Drachenheide zu dieser Stelle im Wald geführt, mehrere Steinwürfe vom Höhleneingang entfernt. Das Unterholz war hier außerordentlich dicht und verwachsen, ein Hinweis darauf, daß der Drache seine Klippe selten verlassen hatte. Noch immer hatte das Mädchen Alberich nicht verraten, wie es sie beide ungesehen auf den Karren bekommen wollte.
»Hörst du schon etwas?« fragte sie.
»Nur meinen Magen. Ich habe seit anderthalb Tagen nichts gegessen.«
Sie deutete auf ein paar rote Beeren, die vor ihm im Dornbusch baumelten. »Iß die. Ein paar davon werden dich nicht umbringen.«
»Klingt wie ein guter Ratschlag«, erwiderte er verbissen.
Geist kicherte wieder, dann schob sie sich rückwärts aus dem Buschwerk in die Finsternis des Waldes.
»Was tust du?«
»Meine Vorbereitungen treffen.« Sie stand jetzt so weit im Dunkel, daß sie nur noch als bleicher Schimmer zu erkennen war. Sie tat irgend etwas mit ihren Verbänden.
Es dauerte nicht lange, da hörte Alberich aus östlicher Richtung das Knirschen und Rattern von Karrenrädern, durchsetzt von leisem Pferdewiehern. »Es ist soweit«, zischte er nach hinten.
Geist antwortete nicht.
Als Alberich sich umschaute, wurde ihm mulmig. Das Mädchen war verschwunden. Hatte sie ihn im Stich gelassen? Oder gehörte das gar zu ihrem Plan?
»Hier bin ich«, flüsterte eine Stimme. Zu seinem Schrecken kam sie aus der entgegengesetzten Richtung - direkt vom Weg!
Er wirbelte herum, und da war sie. Oder auch nicht.
Sie war nicht unsichtbar, keineswegs, aber das, was sie getan hatte, kam sehr nah an Unsichtbarkeit heran. Erst glaubte er, sie hätte sich mit Erde und Grünzeug beschmiert, doch dann schienen ihm die Farben und Muster zu perfekt, zu vollkommen die Anordnung der unterschiedlichen Töne, die sie fast völlig mit dem Hintergrund verschmelzen ließen. Er verstand nicht, was sie getan hatte, aber es war zweifellos keine natürliche, keine menschliche Angelegenheit.