»Ich kenne Euch«, erwiderte der Geweihte, »so wie jeden hier in diesem Land. Macht Euch darüber keine Gedanken.«
Seinen Namen hatte er nicht aufgrund einer Weihe erhalten, wie Mütterchen zu Anfang vermutet hatte. Es hatte nichts mit seinem Glauben oder der alten oder neuen Religion zu tun.
Vielmehr trug der Herr der Drachenkrieger die merkwürdigste Rüstung, deren Mütterchen je angesichtig geworden war. Sie war aus den Enden von Hirschgeweihen gefertigt, ein enges, beinhartes Gitternetz, das seinen ganzen Körper umschloß wie ein Gewimmel aus warzigen Schlangen. Sie fragte sich, wie viele Hirsche er hatte erlegen müssen, um Geweihe zu finden, deren Spitzen so eng gewunden waren, daß sie um seine Arme und Beine paßten. Sogar sein Kopf war von einer schützenden Geweihmaske umschlossen; es sah aus, als hätte eine riesige Spinne vom Hinterkopf aus ihre Beine um sein Gesicht gelegt. Zwischen den Hornspitzen tanzte das Fackellicht über scharfe Wangenknochen und tiefliegende Augen. Sein Schädel war kahl und narbig.
»Was wollt Ihr von uns?« fragte Mütterchen. Ihre Stimme schwankte leicht. Es war eine dumme Frage, geeignet nur, um Zeit zu schinden. Aber wofür? Es gab keine Rettung aus diesem Verlies.
»Ihr wißt es, ich weiß es, deshalb laßt es uns kurzmachen. Wer ist Euer entflohener Gefährte?«
»Was liegt Euch an ihm?«
»Sagen wir, er besitzt etwas, das mir einiges wert ist.« Lächelte er, oder war es nur der flackernde Fackelschein, der die Geweihschatten auf seinem Gesicht erbeben ließ?
Er will das Horn zurück, dachte Mütterchen. Wir hätten das verfluchte Ding bei dem Toten lassen oder besser noch in den Fluß werfen sollen.
»Erwartet Ihr, daß ich einen Freund ans Messer liefere?« fragte sie und gab sich Mühe, abfällig zu klingen, so, als könne es gar keinen Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit geben. Aber insgeheim wußte sie, daß ihr greiser Körper einer Folter nicht standhalten würde.
Als sie ihm kühn in die Augen blickte, las sie darin zu ihrem Entsetzen, daß ihm dieselben Gedanken durch den Kopf gingen. Er wird mich auf jeden Fall foltern, schoß es ihr durch den Kopf. Auf einen Schlag vervielfachte sich ihre Furcht.
Doch dann sagte er zu ihrem Erstaunen: »Wer spricht von päkern?«
Päkern war ein Wort aus der Räubersprache und bedeutete ermorden. Mütterchen wunderte sich nicht, daß er die geheime Zunge der Wegelagerer beherrschte; wahrscheinlich war er selbst einst ein gewöhnlicher Räuber gewesen. Beinahe gegen ihren Willen erzeugte der Begriff, den sie so lange nicht mehr gehörte hatte, ein Gefühl von Wärme in ihr. Erinnerungen stiegen in ihr auf, an eine glorreiche, eine bessere Zeit.
»Wenn Ihr ein Kabber seid, warum verschüttet Ihr mich und werft mich in die Kitte?« fragte sie und appellierte an seine Räuberehre: Wenn Ihr ein Diebeskamerad seid, warum nehmt Ihr mich gefangen und werft mich ins Verlies? Sie empfand fast etwas wie Vergnügen daran. Plötzlich war alles wieder in ihr, die verschlüsselte Sprache von damals, ihre Kraft, die Freude am Leben. Vielleicht war der Geweihte kein so übler Kerl, wie es anfänglich scheinen mochte.
Er kam auf sie zu, bis sie einander fast berührten. Sein Blick bohrte sich in ihre Augen, brachte mit unsichtbaren Fühlern ganz bestimmte Saiten in ihrem Inneren zum Klingen. Sie spürte es und öffnete ihren Geist bereitwillig für sein Tasten. Wann hatte sie sich zum letzten Mal so wohl gefühlt?
»Alte Schicksel«, flüsterte er freundlich, »ich fühle, wie der Mohr Euch holt.« Altes Mädchen, ich fühle, daß Ihr Euch fürchtet. »Dabei war’s der Kaftling, der mein eigen gegampft, und nicht Ihr.« Dabei war’s das kleine Schwein, das mein Eigentum stahl, und nicht Ihr. »Wißt Ihr, wo der Schottenfeller sich verkabbert? Sagt’s und schrobbert frei davon.« Wißt Ihr, wo der Dieb sich versteckt? Sagt’s und zieht unbehelligt weiter.
Bilder flirrten durch Mütterchens Geist, von den Abenden im Kreise ihrer alten Kumpanen, alle längst tot, aber in ihrer Erinnerung lebendiger denn je. Sie sah ihre Triumphe, ihre Siege über Ritter und Krieger, sah reiche Händlerschweine im Pferdedung kriechen und sich selbst mit einem Jubellied auf den Lippen.
Weiter und weiter sprach der Geweihte auf sie ein, benutzte dabei die alte Sprache der Räuberhöhlen und Verliese, ein Kauderwelsch aus deutschen und hebräischen Worten, wie es sich einst unter ihresgleichen eingebürgert hatte.
Und obgleich sie nicht wußte, wohin Alberich geflohen war, so war sie doch drauf und dran, dem Geweihten alles über den Zwerg zu erzählen, über den Hohlen Berg und den schutzlosen Hort, über ihre Reise zum Drachen und ihr Ziel, in seinem Blut zu baden.
Schon öffneten sich ihre Lippen, dem neuen Freund den alten zu verraten, als plötzlich eine Stimme schrie: »Mütterchen, komm zu dir!«
Es war Löwenzahns Stimme, und sogleich brachte ihn ein Hagel aus Fußtritten zum Schweigen. Doch die wenigen Worte reichten aus, um Mütterchen zurück in die Wirklichkeit zu reißen. Erschrocken blickte sie den Geweihten an, sah, wie sein triumphierendes Lächeln in Zorn umschlug. Blitzschnell wich sie vor ihm zurück, drei, vier Schritte weit, bis ihr Rücken gegen die Kerkerwand stieß. Das war nicht ihr eigener Wille gewesen, der sich da in ihr breitgemacht hatte.
Es sind seine Augen! durchzuckte es sie. Seine verfluchten dunklen Augen!
Einen Moment lang sah es aus, als würde der Geweihte Befehl geben, sie zu töten. Lodernde Wut tobte über seine Züge, ein so verzehrender, mörderischer Haß, daß Mütterchen fast glaubte, ihn körperlich zu spüren. Doch dann, von einem Herzschlag zum nächsten, erlosch sein Zorn, und an seine Stelle trat der Anschein von Gleichgültigkeit.
»Gut«, sagte er sachlich. »Ihr wollt es so. Ich gebe Euch bis zum Morgengrauen. Solltet Ihr mir dann nicht sagen, was Ihr über den Zwerg wißt, wird sich mein Folterknecht Eurer annehmen. Und ich werde ihm mit größtem Vergnügen zur Seite stehen.«
Mütterchen starrte ihn in plötzlichem Begreifen an. »Es ist gar nicht das Horn, nicht wahr?«
»Wie meint Ihr das?« fragte er, obgleich er die Antwort doch kannte.
»Es geht Euch um den Zwerg, nicht um das Horn, das er trägt. Was wollt Ihr von ihm? Was macht ihn so wertvoll für Euch?«
Der Geweihte verzog die Mundwinkel zu einem sperrigen Lächeln, dann drehte er sich auf der Stelle um und verließ den Kerker. Seine vier Krieger folgten ihm und schlangen die Kette um das Gitter. Ein Vorhängeschloß, so groß wie Löwenzahns Schädel, schnappte ein.
Mütterchen sprang vor und krallte die knochigen Finger um die Eisenstäbe.
»Ihr werdet ihn niemals fangen!« schrie sie ihren Feinden nach. »Hört Ihr? Niemals!«
Aber das war Wunschdenken, und sie wußte es genau.
Mütterchen kümmerte sich um den angeschlagenen Löwenzahn, kühlte seine Schwellungen mit Wasser aus einem Napf, der in der Ecke stand, und betete insgeheim, daß sich seine Wunden nicht entzünden würden. Er selbst ließ sich kaum anmerken, welche Schmerzen ihn quälten. Er sprach klar, fast vergnügt, und er ließ sich nicht davon abhalten, ein weiteres Mal an dem Gitter zu rütteln, in der vergeblichen Hoffnung, es aus der Verankerung zu brechen. Danach saßen sie beide schweigend in der Ecke, dachten über diese und jene Fluchtmöglichkeit nach, nur um sie dann wieder zu verwerfen.
Durch das Gitter drang der Lärm vom Innenhof herein, das unermüdliche Klatschen der Peitschen auf Sklavenrücken, die Schmerzensschreie und groben Befehle. Spitzhacken krachten in den Tiefen der Schächte, und immer wieder wurden die Männer dort unten mit Wasser begossen. Mütterchen hatte längst aufgehört, sich über den Sinn Gedanken zu machen. Zum ersten Mal seit langer Zeit war sie nah daran, alle Hoffnung fahren zu lassen. Sie fühlte sich leer und nutzlos, und das Eindringen des Geweihten in ihren Geist hatte eine merkwürdige, unsichtbare Wunde in ihr hinterlassen. Nie in ihrem Leben hatte sie sich so gedemütigt, so hintergangen gefühlt.