Выбрать главу

Das kann nicht sein, durchfuhr es Alberich aufgeregt. Oder doch?

Im selben Augenblick riß sich das Mädchen von dem Riesen los und stürmte zurück in die Flammen.

Im selben Augenblick riß Marret sich von Löwenzahn los und stürmte zurück in die Flammen. Ihre dünnen, nackten Beinen drohten über die Leichen zu stolpern, sie schwankte, stolperte, schleppte sich weiter. Ihr Gesicht erglühte im Feuerschein, ihr langes Haar wirbelte wild. Immer wieder öffnete sich ihr Mund, sie rief etwas, und obgleich weder Mütterchen noch Löwenzahn durch ihre Ohrstopfen einen Ton verstehen konnten, so gab es doch keinen Zweifel, wessen Namen sie brüllte.

Mütterchen blickte zurück in die Leichenhölle des Innenhofs, ein Meer aus leblosen Körpern, Sklaven wie Kriegern, die sich im Todeskampf ineinander verschlungen hatten, ungeachtet ihrer Feindschaft. Der Geweihte hatte keinen seiner eigenen Männer geschont, um der Rebellion ein Ende zu bereiten. Niemand, der nicht vor Ertönen des großen Hornes geflohen war oder seine Ohren geschützt hatte, hatte überlebt. Weit über hundert Tote waren es, die darauf warteten, von den Flammen verzehrt zu werden.

Eine besonders häßliche Leiche, die des Grafen Ugo, lag unweit der lodernden Seilwinden. Die erste der hölzernen Konstruktionen war bereits zusammengebrochen, die beiden anderen neigten sich unheilvoll zur Seite. Ihre Haltetaue brannten.

Ausgerechnet am Fuß der einen Winde machte Marret halt. Sie erreichte den toten Ugo im selben Moment, da Löwenzahn alle Vorsicht vergaß und ihr zurück ins Innere der Festung folgte. Mütterchen rief ihm hinterher, vergebens. Sie fluchte heftig und näherte sich abermals dem Tor. Anders als Löwenzahn blieb sie unter dem steinernen Bogen stehen und betrachtete sorgenvoll, wie ihr Freund über die Leichenberge sprang.

Marret beugte sich derweil über ihren einstigen Schützling und drückte sein Gesicht an ihre Brust. Tränen vermischten sich mit Schweiß und Ruß auf ihren Wangen. Die Hitze unweit der brennenden Seilwinden war kaum zu ertragen. Aber sie wollte nicht fort, wollte bei Ugo bleiben, mit ihm sterben, wenn es sein mußte. Er war es, der ihrem Leben Sinn gegeben hatte, die Sorge um ihn, ihre liebevolle Pflege, ungeachtet all seiner Schändlichkeiten. Er war doch nur ein Kind, wäre es immer geblieben, wenn nicht... ja, wenn nicht der Geweihte gekommen wäre. Ihr tränenverschleierter Blick glitt am Turm empor, zu einem Fenster hoch oben. Daraus ragte ein riesiges Horn hervor, fast so groß wie sie selbst. Sie fragte sich, ob daraus eine Trauermelodie für den Grafen ertönte, für ihren Freund, der tief im Herzen ein so guter Mensch gewesen war. Er hätte es verdient, gewiß. Marret hob die Hände und begann, an den Erdkrumen in ihren Ohren zu zupfen. Sie wollte teilhaben an der Trauer um Ugo, an dem Lied zu seinen Ehren.

Zwei gewaltige Pranken packten sie von hinten und rissen ihre Hände herunter, bevor sie die Pfropfen lösen konnte. Mit einem Aufschrei wirbelte sie herum. Ugos Schädel entglitt ihrem Schoß und sackte zurück auf den Boden.

Löwenzahn packte das strampelnde Mädchen und warf es sich über die Schulter. Sie kreischte und weinte, aber er hörte es nicht. Ihre Fingernägel gruben sich in seinen Hals und Nacken, rissen ihm die Haut auf, aber noch immer ließ er sie nicht los. Mit einem Satz sprang er vom Leichnam des wahnsinnigen Grafen fort.

Im selben Augenblick splitterte die nahe Seilwinde aus ihrer letzten Verankerung. Mütterchen schien es, als bliebe die Zeit stehen. Unendlich langsam knickte das lodernde Holzgerüst in sich zusammen, brach dabei zur Seite weg. Stürzte genau auf Löwenzahn und seine tobende Last zu. Brennende Balkensplitter flogen in alle Richtungen, sausten über den Riesen hinweg wie sirrende Schwerter. Näher und näher kam das kippende Gerüst, vier-, fünfmal so hoch wie Löwenzahn selbst. Es war fast, als folge es dem Verlauf seines Weges, beuge sich über ihn, fiel tiefer und tiefer, schien ihn zu streifen, ließ ihn stolpern, Marret verlieren und nach vorne krachen. Kaum zwei Schritte von der Spitze der Winde entfernt schlug Löwenzahn zu Boden. Hinter ihm fauchten die Flammen zum Himmel empor, eine haushohe Feuerwand, die die Seilwinde und alles, was unter ihr begraben war, verzehrte.

Als Löwenzahn sich schmerzerfüllt aufstemmte, war das Mädchen nicht bei ihm.

Der Riese heulte auf und taumelte auf das Feuer zu, doch da war Mütterchen schon bei ihm und hielt ihn am Arm zurück. Er wollte sich losreißen, wollte gar um sich schlagen, doch sei Blick fiel auf Mütterchens Gesicht, und neue Klarheit durchdrang sein Denken. Ein letztes Mal schaute er in die Flammen, Tränen strömten aus seinen Augen, die so gar nicht zu seinen ungeschlachten Zügen passen wollten. Er streckte die Hand nach der Stelle aus, wo Marret von den brennenden Balken erschlagen worden war, dann wandte er sich mit einem Ruck vom Feuer ab und stolperte über die Toten mit Mütterchen zum Tor.

Niemand hielt sie auf. Wer immer sich noch im Turm aufhielt und im Auftrag des Geweihten ins Horn gestoßen hatte, er wartete in der Sicherheit des Granitgemäuers, bis die Flammen im Hof von selbst erloschen.

Die Freunde waren kaum ins Freie getaumelt, als Mütterchen das Gleichgewicht verlor. Ihre Beine gaben nach, sie stürzte.

»Zu alt«, formten ihre Lippen, und sie wunderte sich, daß nicht einmal sie selbst es hörte. Sogar ihre Stimme ließ sie im Stich.

Löwenzahn wischte sich mit einer Pranke über die Augen, dann hob er die greise Räuberin kurzerhand vom Boden auf und trug sie den Hang hinunter zum Waldrand. Mehrfach stießen sie auf Leichen der berittenen Wächter. Sie waren von Sklaven aus den Sätteln gezerrt und erschlagen worden. Die Arbeiter selbst waren allesamt verschwunden. Die meisten waren zum Fluß gelaufen und durch die Fluten zur anderen Seite geschwommen.

Unter den vorderen Bäumen, unweit der Einmündung eines Weges nach Norden, legte Löwenzahn Mütterchen ins feuchte Gras. Er kniete neben ihr nieder und streichelte sanft ihr graues Haar. Er sagte etwas, als ihm die Erdklumpen in seinen Ohren einfielen. Eilig holte er sie hervor. Mütterchen schüttelte den Kopf, als er auch nach ihren Ohren langte; sie hatte noch Kraft genug, es selbst zu tun.

Schließlich fragte Löwenzahn: »Wirst du wieder laufen können?«

Mütterchen zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln. »Ich bin vielleicht schwach, Dummkopf, aber noch lange nicht tot.«

Er grinste unbeholfen in dem augenscheinlichen Versuch, die Trauer um Marret zu verdrängen.

Da fiel Mütterchens Blick auf etwas hinter seiner Schulter. »Sieh dir das an!«

Der Riese fuhr herum und wurde eines einzelnen Ponys gewahr, das verloren am Hang stand und graste.

»Warum ist es nicht mit den anderen Pferden fortgelaufen?« fragte Löwenzahn verblüfft.

»Ich hab dir doch gesagt, ich kann mit ihm sprechen.«

Mütterchen rief Rohlands Namen, das Tier schrak auf und erkannte die Räuberin. So schnell es konnte galoppierte es den Hang hinunter, trampelte fast über Löwenzahn hinweg und leckte voller Freude die Hand seiner Herrin.

Kapitel 4

Es war der Rücken des Mannes, der Alberich während der Fahrt mit geradezu gespenstischer Vordringlichkeit in Anspruch nahm. Er konnte nicht anders, als wieder und wieder darauf zu starren, mit Blicken dem Verlauf der Geweihenden zu folgen, ihren Spitzen und Verzweigungen, die allesamt an einer Art äußere Wirbelsäule zusammenliefen. Auch diese war aus Horn geformt und ähnelte in Gliederung und Oberfläche den übrigen Geweihstücken. Der Mann mußte einen Weg gefunden haben, die Enden frei zu formen. Tat er es mit Hitze, wie beim Stahl? Mit Wasser oder Zaubersang? Allein mit seinem Willen?

Alberich wurde aus seinen Grübeleien gerissen, als Geist ihn unter der Decke anstieß. Sie gab ihm mit einer zaghaften Geste zu verstehen, sich tiefer hinab zu ducken. Wenn einer der Krieger sie bemerkte, war es aus mit ihnen. Nicht einmal die Tarnhaut des Waldfräuleins war dann noch ein brauchbarer Schutz.