Der Geweihmann wisperte dem Pferdelenker etwas zu, und gleich darauf brachte dieser die Tiere zum Halten. Mit einem neuerlichen Ruck blieb der Wagen auf einem engen Waldweg stehen.
Jetzt haben sie uns, dachte Alberich.
Doch statt dessen sprangen die beiden Drachenkrieger vom Wagen und schlugen sich rechts und links des Weges in die Büsche. Der Geweihmann nahm die Zügel auf und trieb die Pferde zur Weiterfahrt. Wenig später hatten sie die beiden Männer hinter sich gelassen.
Ein Hinterhalt, dachte Alberich.
Ein Hinterhalt für wen?
Der Waldpfad war schmal und von hohen Bäumen umstanden, fast schon ein Hohlweg. Der Mond spendete nur spärliches Licht, und jeder Schritt wollte sorgfältig gesetzt sein; Wurzeln und Steine waren tückische Stolperfallen. Mütterchen saß auf Rohlands breitem Rücken, obgleich sie neue Kraft in ihren Beinen spürte. Es widerstrebte ihr, sich mehr zu schonen als unbedingt nötig war. Andererseits wagte sie nicht, sich vorzustellen, was ihnen noch bevorstehen mochte. Manchmal war es unausweichlich, sich ihr eigenes Alter einzugestehen. Räuber ist man ein Leben lang, dachte sie, aber ein brauchbarer Räuber ist man... nun, ganz erheblich kürzer.
Löwenzahn führte das Pony am Zügel. »Horch!« zischte er plötzlich und ließ Rohland anhalten. Das Tier schnaubte ungehalten, und Mütterchen tätschelte seine Mähne.
Von hinten, noch aus weiter Ferne, ertönte das Hämmern von Pferdehufen.
»Dort vorne!« flüsterte Mütterchen aufgeregt und deutete auf eine Senke links des Pfades. Sie war steil, möglicherweise zu steil für das Pony, jedoch von den Wurzeln einer mächtigen Eiche überschattet. Das beste Versteck, das sich ihnen bot.
Sie eilten weiter, und Löwenzahn sprang die Böschung hinunter. Mütterchen stieg ächzend vom Pony und gab Rohland einen Klaps. Das Tier sträubte sich; erst als Mütterchen schob und Löwenzahn zog, glitt es unter Getöse hinab in die Senke. Löwenzahn konnte gerade noch beiseite springen, ehe das Pony ihn rammte.
Augenblicke später hockten sie unter den breiten Strängen der Wurzel und blickten durch die Lücken hinauf zum Weg. Es dauerte eine Weile, ehe das Pferd und sein Reiter sie passierten, doch als es endlich soweit war, stockte ihnen abermals der Atem. Es war der Krieger in Schwarz, jener Recke, den sie für Wodan selbst gehalten hatten. Über den Hals seines Rappen gebeugt, das Gesicht zwischen den buschigen Rabenfedern vergraben, wirkte er noch unheimlicher. Er mochte kein Gott sein, doch sein Anblick war angsteinflößend.
Sie warteten, bis er in den Nacht verschwunden war, dann halfen sie gemeinsam dem Pony zurück auf den Weg.
»Gehen wir weiter in der gleichen Richtung wie er?« fragte Mütterchen. Sie schämte sich nicht länger ihrer Furcht.
»Er ist nur ein Mann«, entgegnete Löwenzahn. »Außerdem haben wir ihm unser Leben zu verdanken.«
»Trotzdem hat es ihn nicht gestört, daß die Sklaven in den Schächten bei lebendigem Leibe verbrannten. Verstehst du nicht? Er hat es in Kauf genommen. Was für ein Mensch ist das?«
»Sein Haß auf den Geweihten muß groß sein.«
In einem Anflug von Abneigung bemerkte Mütterchen, daß auch Löwenzahn der Verlust an Menschenleben nicht verwerflich schien. Allein Marrets Tod hatte ihn tief getroffen; all die Unbekannten aber, die im Feuer gestorben waren, bedeuteten ihm nichts. Ein Erbe seiner Hunnenseite? Aber Löwenzahn konnte nichts für sein Empfinden. Und vielleicht täuschte sie sich sogar. Immerhin waren sie Freunde geworden.
Schließlich einigten sie sich darauf, dem Weg ungeachtet des schwarzen Ritters weiter zu folgen, denn immer noch galt ihr Streben dem Blut des Drachen. Das immerhin waren sie Alberich schuldig; auch der Zwerg würde seinen Weg dorthin fortsetzen, falls er den Kriegern entkommen war. Ein Wiedersehen unter Freunden, fand sie, wäre ein hübscher Ausklang ihres Abenteuers.
Sie mochten eine Stunde gewandert sein, die Dämmerung zeigte sich bereits hinter den Baumkronen, als sie hinter einer Wegkehre die Laute eines Kampfes vernahmen. Schwerter prallten aufeinander, und immer wieder erklang das Keuchen und Fluchen der Kontrahenten.
Löwenzahn gab Mütterchen ein stummes Zeichen, mit dem Pony zurückzubleiben.
Sie aber schüttelte entschieden den Kopf. »Kommt gar nicht in Frage«, flüsterte sie. »Wir gehen gemeinsam.«
Sie banden Rohland an einen Ast und schlichen am Rande des Unterholzes den Weg entlang. Bald schon erkannten sie, was vor ihnen im Gange war.
Der Ritter in Schwarz focht erbittert mit zwei Kriegern des Geweihten, baumlangen Kerlen, die mit funkelnden Breitschwertern auf ihn einhieben. Beide waren wendig und wagemutig. Zudem wußten sie die Enge des Pfades geschickt für sich zu nutzen, indem sie ihren Feind von zwei Seiten bedrängten. Gerade tauchte der Ritter unter einem Hieb des einen Kriegers hinweg, als ihn der andere schon mit wilden Schwertschlägen eindeckte. Sein verletztes Bein, vom Bolzen durchbohrt, ließ ihn hinken und verminderte seine Gewandtheit.
»Er verliert«, raunte Löwenzahn. »Sollen wir etwa zusehen?«
»Willst du, daß Löwenzahn ihm hilft?« Mütterchen hob die Schultern. »Wir verdanken ihm unser Leben, das waren deine Worte.«
Löwenzahn nickte, packte das Schwert, das er dem toten Krieger in der Festung abgenommen hatte, und stürmte mit einem urtümlichen Kampfschrei vorwärts. Innerhalb eines Augenblickes hatte er einen der beiden Drachenkrieger erreicht und deckte ihn mit einem wahren Gewitter aus blitzenden Streichen und Stichen ein. Der schwarze Ritter schenkte ihm durch den Schlitz seines Helmes ein grimmiges Lächeln, dann widmete er sich dem zweiten Feind.
Der Drachenkrieger stellte sich schnell auf den neuen Gegner ein. Er zögerte nicht, zeigte nicht einmal Erstaunen. Jede seiner Bewegungen war tadellos einstudiert, eine mustergültige Abfolge von Attacken und Paraden, die dem grobschlächtigen Kampfstil Löwenzahns an Fintenreichtum überlegen war. Was dem Krieger jedoch abging, war Löwenzahns rohe Gewalt. Obwohl beide etwa gleich groß waren und auch der Drachenkrieger über erhebliche Kräfte verfügte, gelang es Löwenzahn doch, seinen Feind durch die Stärke seiner Hiebe in Bedrängnis zu bringen. Immer wieder ließ er sein Schwert auf die Klinge des Feindes krachen, immer schneller und ungezielter, denn er erkannte sehr wohl, worin sein Vorteil lag. Mochte der Drachenkrieger im Umgang mit der Waffe besser geschult sein, so war ihm die Wildheit des Halbhunnen fremd. Statt tückischer Finten und Figuren brach eine ungezähmte Folge von brutalen Schlägen über ihn herein, und bald schon wurde sein Arm vom ewigen Parieren lahm.
Da gelang es Löwenzahn, den Gegner in die Knie zu zwingen. Schützend hob der Drachenkrieger sein Schwert über den Kopf, als auch schon Löwenzahns Waffe auf ihn niedersauste, seine Klinge zerbrach und ihm den Schädel spaltete. Ein Berserkerschrei entrang sich der Kehle des Riesen, als der Krieger unter ihm zusammensackte. Soweit hatte die Kampfeswut Löwenzahn schon in ihrer Gewalt, daß er gar ausholte und dem toten Feind mitten in das zerstörte Gesicht trat, letzter Triumph des Überlegenen.
Mütterchen wandte sich voller Abscheu ab. Immer wieder entdeckte sie unter der bärenhaften Gutmütigkeit des Freundes neue, unvermutete Grausamkeit. Selbst seine Art zu kämpfen und den Sieg zu feiern schien ihr fremd und abstoßend. War es nur der Tod des Mädchens, der ihn rasend machte?
Derweil war es dem schwarzen Ritter trotz der Wunde gelungen, seinen Gegner mit dem Rücken gegen die Fichtenwand zu treiben. Noch einmal versuchte der Krieger einen Ausfall, stach geradewegs vor, drehte die Klinge und zog sie flink nach oben. Nur um Haaresbreite verfehlte die Schwertspitze die Kehle des Ritters, der Krieger wurde von der eigenen Wucht nach vorne gezogen - direkt in das Schwert seines Feindes. Knirschend brach es durch den Schuppenpanzer und durchbohrte seinen Brustkorb.