Gebannt und atemlos trat Mütterchen aus dem Dickicht. Sie hatten ihr Teil an Schwertkämpfen erlebt, gerechten und heimtückischen, aber selten hatte sie erlebt, daß zwei solche Giganten Seite an Seite stritten. Der Ritter war selbst mit verletztem Bein noch jedem Krieger ebenbürtig.
Mit blutigem Schwert trat er auf Löwenzahn zu und betrachtete ihn düster mit seinem einzelnen Auge. »Ich sah Euch im Hof der Festung. Was treibt einen Hunnen in diese Gegend?«
Ehe Löwenzahn etwas - zweifellos Ungeschicktes - erwidern konnte, ergriff Mütterchen das Wort: »Seid Ihr meinem Freund nicht einen Dank schuldig, Herr Ritter, bevor Ihr ihn befragt?«
»Das bin ich«, gab der Mann zu, »doch mehr noch schulde ich Treue meinem Herrn, dem König. Und Etzels Hunnen sind seine Feinde.«
»Ich bin kein Hunne«, widersprach Löwenzahn zornig. Mütterchen vermochte nicht zu sagen, ob seine Wut ein Überbleibsel des Kampfes war oder ob ihn das Verhalten des Ritters erzürnte. Beides bereitete ihr Sorgen.
»Euer Aussehen straft Eure Worte Lüge«, sagte der Ritter. Um dennoch zu zeigen, daß ihm nicht an einem Kampf lag, packte er seinen Helm am Busch und zog ihn vom Kopf. Darunter kam ein hartes, nicht mehr ganz junges Gesicht zum Vorschein. Es war schmal, fast eingefallen, und mehrere Narben zogen sich über die Haut. Sein linkes Auge war von einer schwarzen Binde verdeckt.
Löwenzahn funkelte ihn finster an. »Ihr wollt behaupten, daß ich lüge, Mann?«
Der Ritter hob die Schultern. Sein Kragen aus Rabenfedern wallte auf und nieder. »Mir liegt nicht an voreiligen Schlüssen und weniger noch an einem neuerlichen Kampf. Ihr schuldetet mir Euer Leben, und nun habt Ihr möglicherweise das meine gerettet. Belassen wir es dabei.«
Er schaute sich nach seinem Pferd um, während Mütterchen und Löwenzahn verwunderte Blicke wechselten. Der Ritter drehte sich um und eilte zu einer Schneise im Dickicht. Er fluchte, als er etwas im Unterholz entdeckte und mit weiten Schritten im Gesträuch verschwand.
Als Mütterchen und Löwenzahn ihm folgten, sahen sie, wie er sich sorgenvoll über den blutenden Leib seines Rappen beugte. Das Tier lag auf der Seite im Dickicht und zuckte krampfend mit den Beinen. Der Schwertstreich eines Drachenkriegers hatte ihm die Seite aufgeschlitzt.
Der Ritter erhob sich, schloß für einen Moment sein verbliebendes Auge, dann hob er sein Schwert und ließ es kraftvoll in den Körper des Pferdes gleiten, mitten hinein ins Herz. Das Tier schnaubte ein letztes Mal, dann war es von seiner Qual erlöst.
Wortlos trat der Ritter an den beiden vorbei auf den Weg. Sein Gesichtsausdruck kündete von Trauer und Zorn, und selbst Löwenzahn zog es in diesem Augenblick vor zu schweigen.
Der Ritter schien einen Moment lang ungewiß, wie es weitergehen sollte, dann sagte er: »Verkauft mir Euer Pony.«
Es war keine Frage, sondern ein Befehl. Und er machte Mütterchen wirklich zornig.
»Wo denkt Ihr hin? Dieses Pony ist mein Freund.«
»Dann hat es einen Namen?« fragte der Ritter und trat auf Rohland zu.
»So ist es«, bestätigte Mütterchen, ohne ihn indes zu verraten.
Der Ritter beugte sich an das Ohr des Ponys und flüsterte etwas hinein. Rohland stampfte mit einem Vorderhuf auf und wieherte.
Löwenzahn sah einfältig drein. »Kann denn jeder hier mit Tieren sprechen?«
Mütterchen stapfte vor und schob sich erbost zwischen Rohland und den Ritter. Jener schaute sie erst drohend, dann belustigt an. Doch sein Lächeln währte nur einen Augenblick, dann wirkte er wieder so finster wie zuvor.
»Wollt Ihr Euch gegen einen Freund des Königs stellen?«
»Wollt Ihr eine wehrlose Alte erschlagen?«
Der Ritter legte verwundert den Kopf schräg. »Ihr appelliert an meine Ehre?« Plötzlich lachte er schallend. »Verzeiht, aber damit seid Ihr an den Falschen geraten. Meine Ehre ist soviel wert wie Eure greisen Knochen.«
»Mir sind sie einiges wert.«
»Daran zweifle ich nicht.«
Löwenzahn stand da und überlegte, ob er dazwischengehen sollte. Er kam jedoch zu dem Schluß, es nicht zu tun; die Wortgefechte überließ er besser Mütterchen.
Sie begegnete dem Ritter mit Kühnheit. »Ihr wollt zum Drachen, nicht wahr?«
»Dann ist er auch Euer Ziel?«
»Wir könnten zusammengehen. Ihr selbst und mein Freund gebt ein gutes Kampfgespann ab.«
»Ihr würdet mich nur aufhalten.«
»Vergeßt nicht, bisher habt Ihr uns aufgehalten.«
Wieder lächelte er, und an den frischen Falten, die es auf seinem Gesicht erzeugte, erkannte Mütterchen, daß er dergleichen nicht oft tat. Es wirkte unbeholfen, als hätte er es nie gelernt.
»Nennt mir Euren Namen, Weggefährtin«, sagte er zu ihrem Erstaunen.
»Früher hieß man mich Mütterchen Mitternacht.«
»Die Grausame persönlich?«
»Eben jene.«
»Und Euer Gefährte?«
»Löwenzahn«, sagte Mütterchen.
Der Ritter sah verwundert von einem zum anderen, enthielt sich aber einer Bemerkung.
»Wie ist Euer Name?« fragte die Räuberin und konzentrierte ihren Blick auf das Auge des Mannes. »Mit Verlaub, mein Freund hier hielt Euch schon für den Rabengott selbst.«
Löwenzahn fuhr voller Empörung auf. »Das warst du, nicht ich!«
Mütterchen winkte ab. »Papperlapapp!«
Der Ritter aber versank in tiefem Schweigen. Schließlich sagte er gedankenverloren: »Tatsächlich hat man mich einst so genannt. Der Rabengott... Aber das ist lange her.«
»Und wie heißt Ihr wirklich?«
»Heute nennt man mich bei meinem wahren Namen«, sagte er und fügte leiser hinzu: »Ich bin Hagen von Tronje.«
Seltsam, dachte Mütterchen, es klingt beinah, als schäme er sich dafür.
Mit einem Laut wie ein Schrei fuhr der Wind durch die Wälder. Alberich fröstelte. Nicht einmal die Decke, die ihn und das Moosfräulein vor den Blicken des Geweihmannes schützte, vermochte die Kälte aus seinen Gliedern zu vertreiben. Und vielleicht war es ja gar nicht die Kälte des Windes, die ihn schaudern ließ. Alberich gestand sich ein, daß er sich selten zuvor so unwohl gefühlt hatte. Die Ungewißheit dessen, was sie noch erwarten mochte, widersprach seinem geruhsamen Leben im Hohlen Berg und brachte ihn ganz durcheinander. Beinahe wünschte er sich, der Schmerz des Alleinseins möge zurückkehren und ihn vor allen weiteren Abenteuern behüten.
Und noch etwas beunruhigte ihn. Bei seiner ersten Begegnung mit Geist war ihm klargeworden, daß sie beide die letzten ihrer Art waren, wenigstens in dieser Gegend, und er hatte die Verbundenheit gefühlt, die daraus zwischen ihnen entstand. Je länger er aber nun auf den Rücken des Geweihmannes blickte, auf die verschlungenen Hornstränge, die gleichsam mit seinem Körper verwachsen schienen, desto deutlicher empfand er diese Verbundenheit auch mit ihm. Er war ihr Feind, ohne Zweifel, ein grausamer noch dazu, aber gleichzeitig war da eine spürbare Verbindung zwischen ihnen, als sei mit dem Geweihmann ein drittes Wesen mit dem magischen Blut der Alten an ihre Seite gestoßen.
Das vierte war der Drache.
Alberich erschrak. Wenn er selbst die Nähe eines Zauberwesens spürte, mußte umgekehrt dann nicht auch der Geweihmann die Anwesenheit von Geist und Alberich fühlen? Wußte er längst, daß sie auf dem Wagen lagen? Wollte er, daß sie mit zum Kadaver des Drachen kamen?
Alberich hatte die schreckliche Vorahnung, daß ihnen etwas Grauenvolles bevorstand, wenn sie nicht sofort die Flucht ergriffen. Wir müssen hier weg! durchfuhr es ihn. Abspringen und fortlaufen.
Lautes Hufgetrampel riß ihn aus seinen Gedanken. Ein berittener Drachenkrieger kam ihnen auf dem Weg entgegengesprengt. Erstaunt riß er sein Pferd herum, als er seines Meisters angesichtig wurde. Tänzelnd kam das Tier zum Stehen.