»Was die Geschichte angeht -«, begann Mütterchen Mitternacht, doch Obbo winkte ab.
»Einen Augenblick.«
Er eilte wieder in die Küche und befühlte den Stein. Warm, aber noch weit von wirklicher Hitze entfernt. Wenn es so weiterging, würde das Schmalz ranzig werden, bevor es heiß war. Obbo atmete tief durch und begann, sich damit abzufinden, daß Alberichs Zorn verheerend sein würde, ein wahres Zornesgewitter.
Er überlegte, ob er die wertvollsten Gegenstände im Schankraum, den alten Wandteppich und einige fein bemalte Krüge, forträumen sollte. Ob es nutzte, wenn Alberichs Bier gezapft für ihn bereitstand? Nein, er würde nur über die niedrige Schaumkrone fluchen.
Zurück in der Schänke nahm Obbo bei Mütterchen Platz. Es blieb ihm nichts übrig, als abzuwarten.
Die alte Räuberin stopfte Kraut in ihre Pfeife, ein monströses Ding, so lang wie Obbos Unterarm. Obbo reichte ihr einen glühenden Span, den er vom Ofenfeuer mitgebracht hatte, dann war sie bereit. Würziger Pfeifenduft wehte durchs Zimmer.
»Nun, nun«, murmelte Mütterchen Mitternacht, denn damit begann sie seit dreizehn Jahren jede ihrer Geschichten, »es ist etwas ganz Besonderes, das mir heute zu Ohren kam. Ein fetter Händler, fetter noch als du, Obbo, erzählte mir davon.«
»Du hast im Wald einen Händler getroffen?«
»Eine Geschichte war alles, was er bei sich trug.«
»Dann muß sie so gut sein wie Golddukaten.«
»Besser noch, mein Lieber, besser noch.« Sie hatte hellblaue Augen, die Obbo jetzt vergnügt anblinzelten. Manchmal wirkten sie fast weiß, vor allem im Winter. Mochte der Leibhaftige wissen, was der Grund dafür war. »Es ist eine Geschichte vom Helden Siegfried«, fuhr sie fort.
Obbo wurde bleich. »Gott bewahre, der Schlächter! Laß das nicht Alberich hören.«
»Was soll er schon tun?«
»Dir den Kopf abreißen.«
»Ach, das würde er nicht tun.« Sie kicherte schnarrend.
»Er könnte meine Tische zerschlagen.«
»Das wird er so oder so tun, wenn kein Ei für ihn bereitsteht.« Sie lachte laut auf, ein trockenes, brüchiges Rasseln. »Und wer weiß, vielleicht helfe ich ihm dabei, wenn auch das meine auf sich warten läßt.«
»Du bist grausam.«
»So nannte man mich einst - die Grausame.«
Obbo atmete leidvoll durch. »Los nun, die Geschichte.«
»Also«, wollte sie fortfahren, als die Tür zum zweitenmal an diesem Morgen aufflog.
Obbo wurde winzig klein auf seinem Hocker. »Alberich!« entfuhr es ihm flüsternd.
Der Schatten des Gastes fiel bis zur Küchentür.
»Das ist nicht Alberich«, stellte Mütterchen fest.
»Nicht?« fragte Obbo hoffnungsvoll.
»Nein.«
Und tatsächlich: Statt des Horthüters trat ein anderer zur Tür herein, ein Mann, den keiner der beiden je gesehen hatte.
»Holla!« brummte er mit brunnentiefer Stimme. »Bier für einen Gast. Und gebratenes Ei, wenn’s recht ist.«
Es war ein Hüne von einem Kerl. Gebückt kam er vom Wald herein, und gebückt stand er im Schankraum. Sein Kopf ragte höher als die Balkendecke, und seine Schultern waren breit wie die Tür. Ein schwarzer Haarschopf, wirr und starr wie Stroh, wucherte ihm über Stirn und Nacken, und auch sein Bart war rabenschwarz. Seine Kleidung war aus dunklem Fell und Eisen, aus hartem Leder und Bronzeschuppen - die Kleidung eines Kriegers. Einen furchtbaren Zweihänder hielt er in den Pranken. Viel zu groß für die Waffentruhe, wie Obbo sorgenvoll bemerkte.
Dann sah er die Augen des Riesen. Sie standen schräg.
»Ein Hunne!« schrie Mütterchen Mitternacht und sprang erstaunlich flink vom Hocker. »Schnell, Obbo, mein Schwert!«
»Laß gut sein, alte Vettel«, grunzte der Hüne oder Hunne oder was immer er auch sein mochte. »Keinen Streit bring’ ich in diese Mauern.« Er redete sehr langsam und gedehnt, und Obbo hatte den Eindruck, daß er ein wenig blöde war. »Stark und tödlich bin ich wie der Zahn des Löwen. Deshalb nennt man mich Löwenzahn.« Er straffte sich, schob heldenhaft die Brust nach vorne - und stieß prompt mit dem Schädel an die Decke. »Löwenzahn, der Grausame.«
Zwei von der Sorte, dachte Obbo freudlos.
»Löwenzahn?« fragte Mütterchen und gab Obbo einen Tritt. »Das Schwert!« zischte sie leise.
»Löwenzahn, jawohl. Aber dein Zittern ist unbegründet, Weib.«
»Mein Zittern?« Das war zuviel. Erst »Vettel« und nun das! »Ich zittere nicht, schon gar nicht vor dir, Hunne.«
Obbo trat an die Waffentruhe und dachte bei sich: Hunnen haben keine solchen Bärte. Und sie sind klein und gelb wie Senf. Dieser hier ist nichts von beidem.
Er zögerte noch, Mütterchen das Schwert herauszugeben. So lange der Kerl keinen Ärger machte, würde er keinen Kampf im Wolfswinkel dulden. Wiewohl, welche Wahl hatte er schon? Vielleicht sollte er einfach in die Küche gehen und nach dem Bratstein sehen.
Als hätte er Obbos Gedanken gelesen - was ausgeschlossen war, denn lesen konnte keiner der drei -, sagte der Riese: »Ich bin kein Hunne, Vettel. Mein Vater war einer, aber nicht meine Mutter. Sie war eine Frau wie du, wenngleich auch jünger und schöner.«
»Jünger und... schöner?« Mütterchen schloß mit einem Krächzen den Mund.
Löwenzahn, wenn das denn wirklich sein Name war, legte das Gigantenschwert auf einen Tisch. Er nickte. »Sie war ein Prachtweib, groß und blond wie die Sonne selbst. Und jetzt, Wirt, bring mir Bier!«
Obbo füllte flugs einen Krug, den größten, den er besaß, und schleppte ihn an den Tisch des Kriegers. Kleinlaut sagte er: »Euer Schwert, Herr - ich muß es wegschließen. Das ist hier Gesetz.«
»Wessen Gesetz?« gröhlte der Recke Löwenzahn.
»Äh«, machte Obbo verdrießlich, »das meine.«
»So, so.« Plötzlich grinste Löwenzahn. Hinter seiner Oberlippe klaffte eine Zahnlücke. »Nun, Gesetzgeber, Wirt, oder wie immer du dich nennen magst, so nimm denn mein Schwert und schließe es ein.«
Obbo zögerte noch einen Augenblick, dann hob er die mächtige Waffe mit aller Kraft vom Tisch. Ächzend und stöhnend schleppte er den Bihänder zur Waffenkiste. Seine Befürchtung war richtig gewesen: Die Klinge war zu lang. Er mußte den Deckel offenstehen lassen. Fast die Hälfte des Schwertes ragte heraus.
Die Tatsache, daß der Hüne nun kein Schwert mehr am Leib trug, schien Mütterchens Wut zu besänftigen. Sie setzte sich, nahm wieder ihre Pfeife auf und beobachtete den Fremden durch graue Krautschwaden.
»Gib acht, Hunne, bald kommt einer, der es nicht so gut mit dir meint wie ich«, brummte sie mißmutig. Ihre Sanftmut überraschte Obbo; für gewöhnlich ging sie keinem Kampf aus dem Weg. Doch auch Räuberbräute wurden alt, und Mütterchen hatte noch nicht gefrühstückt.
»Sie spricht die Wahrheit«, sagte Obbo an Löwenzahn gewandt. »Der Horthüter Alberich haßt alles, was auch nur hunnisch aussieht, ganz gleich, ob Ihr ein ganzer, ein halber oder nur zu einem Viertel Hunne seid.«
»Soll er kommen«, prahlte der Krieger über sein Bier hinweg. »Ich will ihn zurechtstutzen, bis er aufrecht durch die Zwergenstollen unter den Bergen gehen kann.«
»Aber er ist ein Zwerg«, bemerkte Obbo.
Löwenzahn lachte gröhlend auf und sagte nichts mehr.
»Wartet nur ab«, sagte Obbo leise und lief in die Küche. Noch immer war die Steinplatte nicht heiß genug, um Schmalz und Eier zum Braten zu bringen. Ein schwarzer Tag für den Wolfswinkel. Kein Ei für Alberich Horthüter, ein Raufbold im Schankraum und soviel Eile und Aufregung, daß Mütterchen nicht dazu kam, ihre Geschichte zu erzählen. Ein wahrlich übler Morgen. Und übler noch, wenn erst Alberich den Hunnen entdecken würde. Das mußte schrecklich enden, ein Gemetzel ohnegleichen.
Zurück im Schankraum nahm Obbo abermals an Mütterchens Tisch Platz und forderte sie auf, es erneut mit ihrer Geschichte zu versuchen.