»Die Totenstarre wird bald ihren Höhepunkt erreichen«, sagte der Geweihte, als sie den Kadaver fast erreicht hatten. »Sein Äußeres ist bereits versteinert, die Starre frißt sich durch seine Eingeweide zum Herz. Erst dann wird er aufhören, Botschaften auszusenden.«
»Botschaften?« fragte Alberich verwundert.
Der Geweihte blinzelte abschätzend auf den Zwerg herab, als hätte er ihn beleidigt. »Die Melodie. Ich weiß, daß Ihr sie hören könnt, gerade jetzt, in diesem Augenblick.«
»Dann hört Ihr sie auch?«
»Leiser als Ihr, schwächer und nicht vollständig. Deshalb brauche ich Eure Hilfe.«
»Meine... Hilfe?« wiederholte Alberich befremdet.
Der Geweihte nickte knapp. »Eure oder die des Moosfräuleins. Das ist einerlei. Und genaugenommen bin nicht ich es, dem Ihr helfen sollt, sondern er!« Er deutete auf den Drachen. Aus der Nähe wirkte das Untier noch größer, wie ein Hügel aus versteinerten Schuppen und Muskelsträngen, die dicker waren als die mächtigsten Eichen. Der verdrehte Leib, halb auf der Seite, halb auf dem Rücken liegend, war so hoch wie ein Haus. Alberich sah, daß die Kruste des Blutsees mit weißgrauen Pilzen bedeckt war.
»Welche Art von Hilfe meint Ihr?« Er legte Schärfe in das Wort, um ihm den freundlichen Klang zu nehmen. Hilfe wurde freiwillig gegeben; er aber bezweifelte, daß man ihm eine Wahl lassen würde.
Die Mundwinkel des Geweihten zuckten unter den Hornsträngen seiner Maske. »Seht selbst...«
Er führte Alberich um den Leichnam herum, bis sie jene Seite des Tieres erreichten, die von der Höhle, den Kriegern und den Sklaven am Klippenrand abgewandt war. Dort, wo der Zwerg den Brustkorb des Drachen vermutete, klaffte ein Loch im Schuppenpanzer der Bestie. Dahinter führte zwischen freiliegenden Rippen ein enger schwarzer Tunnel mitten in den Kadaverberg.
»Ihr wollt doch nicht, daß ich dort hineingehe?«
»Später. Erst aber -«
Der Zwerg unterbrach ihn lautstark. »Ich denke nicht daran.«
Ruckartig beugte sich der Geweihte zu ihm herunter. Sein Blick bohrte sich stechend in Alberichs Augen. Seine Stimme bekam einen düstermelodiösen Klang. »Wenn ich es für richtig halte, werdet Ihr es tun!«
Zu seinem Erstaunen hielt der Zwerg der Beeinflussung stand. »Nein«, sagte er hart. »Werft mich von der Klippe oder erschlagt mich gleich, aber ich werde nicht für Euch in dieses... Ding klettern.«
Allein der Gestank, der ihm aus dem Inneren des Kadavers entgegenwehte, gab ihm den Mut, sich zu widersetzen. »Warum gebt Ihr nicht einem Eurer Männer den Befehl dazu, wenn es Euch so wichtig ist?«
»Was glaubt Ihr, wer den Tunnel durch das Fleisch des Drachen gegraben hat? Sklaven, Krieger, gewöhnliche Menschen. Nicht einer von ihnen ist wieder herausgekommen. Der Drachenleib hat sie verschlungen, sogar noch im Tode.«
»Das bestärkt mich nicht gerade in dem Wunsch, Euch behilflich zu sein.«
,»Ihr seid anders«, zischte der Geweihte zornig. »Ihr seid von seinem Blut. Ihr seid wie er.«
»Und Ihr? Was ist mit Euch? Habt Ihr etwa Angst, dort hineinzugehen?«
Einige Herzschläge lang wich die Finsternis aus dem Blick des Geweihten, und an ihre Stelle trat ein Hauch von Verletzlichkeit. »Mag sein, daß es mir gelingt, den Gang ins Innere zu überleben. Genausogut aber könnte er mich töten.«
Alberich bemerkte mit Genugtuung, daß er die wunde Stelle des Geweihten entdeckt hatte. Im Gegensatz zu Geist, die darunter litt, kein gewöhnlicher Mensch zu sein, so grämte den Geweihten das Bewußtsein, daß viel zuviel Menschliches in ihm steckte.
»Was wollt Ihr überhaupt dort drinnen?« fragte Alberich.
»Das werdet Ihr früh genug erfahren.«
»Dann geht es Euch gar nicht um das Blut?«
»Das Blut bedingt alles andere«, erwiderte der Geweihte geheimnisvoll. Als hätte ihm dieser Gedanke etwas in Erinnerung gerufen, ging plötzlich ein Ruck durch seinen Körper. Die Geweihenden schabten hörbar aneinander. Es klang, als kämpften zwei Hirsche auf einer Waldlichtung.
»Kommt jetzt! Es ist an der Zeit.«
Für was? wollte Alberich fragen, aber der Geweihte eilte bereits voraus zum Klippenrand. Einen Moment lang fragte er sich, was wohl geschähe, wenn er ihn angreifen würde. Offenbar war Alberich für ihn nur lebendig von Nutzen. War der Versuch den Einsatz wert?
Er entschied sich dagegen. Noch mochte er die Möglichkeit haben, lebend aus dieser ganzen Sache herauszukommen und zum Hohlen Berg zurückzukehren. Beinahe erschrocken wurde er sich bewußt, daß er seit Tagen nicht mehr an den Hort gedacht hatte. Lag er noch sicher im Berg? Oder waren bereits die ersten Räuberbanden eingetroffen, um die Schatzkammern zu plündern?
Unwillig folgte er dem Geweihten. Auf der anderen Seite des Kadavers, am Abgrund der Klippe, drängte sich im rotgoldenen Licht der Morgensonne eine Schar von Sklaven aneinander. Eine Handvoll Krieger hielt sie mit blitzenden Waffen in Schach. Weitere Vasallen des Geweihten standen rund um die Seilwinde am Felsrand. Sie traten ehrfürchtig zur Seite, als ihr Anführer sich näherte.
Als Alberich bei ihnen eintraf, überkam ihn abermals das Flüstern der Melodie. Jetzt klang sie verzweifelt wie ein Hilfeschrei.
Schlagartig drehte sich der Geweihte zu ihm um. »Habt Ihr es gehört? Er fleht Euch an, ihm zu helfen.«
»Der Drache?« flüsterte Alberich, und ein Raunen ging durch die Kriegerschar.
»Er hat Euch hierhergeführt«, sagte der Geweihte. Die Strahlen der aufgehenden Sonne schmiegten sich wie Goldgeschmeide um seine Hornrüstung. »Euch und das Moosfräulein.« Leiser fügte er hinzu: »Genauso wie mich.«
Von jenseits der Klippe drang ein leises Plätschern herauf. Alberich hatte Mühe, es von der Melodie in seinem Kopf zu unterscheiden. Er spürte, wie ihn ein Schwindel überkam. Das mußte an der Höhe der Klippe liegen, an dem Ausblick über die weite Hügellandschaft am Westufer. Zwerge sind für die Tiefen der Erde geschaffen, nicht für die luftigen Bergeshöhen.
Die Gesichter und Gestalten um ihn herum begannen zu verschwimmen, sich zu vermischen wie unterschiedliche Farben in einem Tiegel. Die Melodie wurde lauter, mißtönender, bis er glaubte, er müsse die Hände in seinen Schädel graben und die fremden Klänge herausreißen.
Schlagartig verstummten sie und verschwanden in den Tiefen seines Bewußtseins.
Auch das Plätschern brach ab.
Alberich hatte angenommen, es sei vom Fluß heraufgedrungen. Doch als jetzt immer mehr Krieger mit sorgenvollen Blicken in den Abgrund schauten und ein Murren unter ihnen laut wurde, da begriff er, daß etwas Unerwartetes geschehen war.
Er blickte den Geweihten an und sah zu seinem Erstaunen, daß er lächelte. Nur einen Augenblick lang, dann war seine Miene wieder so starr und abweisend wie zuvor. Es war kein freundliches Lächeln gewesen.
»Das Blut ist versiegt«, rief einer der Männer und wandte sich beinahe vorwurfsvoll an den Geweihten.
Alberich erinnerte sich wieder an das hölzerne Auffangbecken in der Steilwand, von dem Geist ihm erzählt hatte. Also war es das Plätschern des Blutes gewesen, das in das Becken strömte.
Immer mehr Krieger begannen zu murren. »Wie sollen wir darin baden?« - »Das ist nicht mal ein halbes Faß voll!« - »Jemand muß es heraufholen!«
Alberich durchschaute allmählich, was vor sich ging. Der Geweihte hatte seinen Männern nicht nur Gold versprochen. Für Krieger wie sie war Unverwundbarkeit weit verlockender als feines Geschmeide.
Der Geweihte breitete in einer herrischen Geste die Arme aus. Sofort verstummten die Krieger und sahen ihn an.
»Jemand wird das Blut heraufholen«, rief er so laut, daß die Worte in der Tiefe widerhallten. »Ihr habt es Euch verdient. Vorher aber...« Er verstummte und deutete in weitem Bogen auf die verängstigten Sklaven am Rand der Klippe.