Ein neuer Blutdurst loderte in den Augen der Krieger auf und verdrängte für einen Augenblick Enttäuschung und Zorn. Und nun war es nicht mehr das Blut des Drachen, nach dem es ihnen gelüstete.
Mütterchen schauderte, als sie sich am Waldrand zwischen Hagen und Löwenzahn zwängte. Ihrer aller Augen waren auf das Geschehen gerichtet, das jenseits der Heide seinen unausweichlichen Verlauf nahm.
»Das können sie doch nicht wirklich tun«, flüsterte sogar Löwenzahn mit bebender Stimme.
Hagen runzelte die Stirn. »Natürlich könne sie.« Er klang ruhig, fast gleichgültig, doch seine Wangen zuckten, als gelänge es ihm nur mit Mühe, seine Wut im Zaum zu halten. Dann erkannte Mütterchen, daß es der Schmerz seiner Wunde war, der ihm zu schaffen machte, nicht die Unmenschlichkeit der Drachenkrieger. Die Verletzung schien sich zu entzünden.
Sie blickte ihn bösartig an. »Was macht es schon, daß noch ein paar Sklaven sterben - das ist es doch, was Ihr meint, nicht wahr?«
Ohne den Blick von den Sklaven zu wenden, die sich in einer langen Reihe an der Felskante aufstellen mußten, erwiderte Hagen: »Ohne die brennenden Seilwinden wäre es schlecht um Eure Flucht bestellt gewesen.«
»Macht Euch nicht lächerlich«, gab Mütterchen wütend zurück. »Wir haben in Eurem Feuer eine Freundin verloren. Und Ihr habt die Dreistigkeit, Euch -«
»Schaut doch nur!« fiel Löwenzahn ihr ins Wort.
Jäh verstummten alle drei.
Mütterchen hatte einundzwanzig Krieger gezählt. Ein Großteil von ihnen trat jetzt hinter die Reihe der Sklaven.
Jene, die um ihr Leben flehten, die weinten und auf die Knie fielen, wurden als erste gestoßen. Kreischend verschwanden sie im Abgrund. Ihnen folgten nach und nach die übrigen, einige sichtbar gleichgültig, weil sie längst mit dem Leben abgeschlossen hatten, andere mit Flüchen und Beleidigungen auf den Lippen. Ein paar von ihnen hatten vielleicht Glück und überlebten den Sturz in die Tiefe - obgleich die Wasseroberfläche aus dieser Höhe mit der Gewalt einer Felsplatte auf sie zuraste. Die meisten aber wurden beim Aufprall zerschmettert wie Figuren aus Lehm.
Mit tränenfeuchten Augen erkannte Mütterchen Alberich, der mit gebunden Händen an der Seite des Geweihten stand, gleich neben der hohen Seilwinde. Er verfolgte den Mord an den Sklaven mit wutverzerrten Zügen.
Nachdem sie sich selbst zur Ruhe gezwungen hatte, fragte sie sich, wohin das Moosfräulein verschwunden war. Geist hatte ihnen berichtet, was ihr und Alberich widerfahren war, hatte ihnen auf dem Weg hierher auch die Einzelheiten der Heide geschildert - den gigantischen Kadaver, die Höhle, den Seilzug, das Auffangbecken und den Stollen in der Felswand.
Kurz darauf war das seltsame Geschöpf verschwunden, hatte seine Haut dem Dunkel des Waldes angeglichen und war darin untergetaucht. Hagen hatte ihr mißtraut, aber Mütterchen hatte gespürt, daß sie die Wahrheit sagte. Welchen Grund hätte sie auch haben sollen, sie anzulügen? Mütterchen hatte sich beim besten Willen nicht vorstellen können, daß Geist auf der Seite des Geweihten stand.
Wohl hatte sie sich gefragt, was das Moosfräulein sich vom Blut des Drachen erhoffte. Die Antwort darauf hatte sie nach einer Weile selbst gefunden. Der Blutsee hatte in ihren Hirnen längst ein Eigenleben gewonnen, verhieß dem einen Unverwundbarkeit, dem anderen Heilung von Krankheit. Geist wünschte sich, das Zauberblut des Drachen würde einen Menschen aus ihr machen. War das weniger abwegig als Alberichs Hornhaut, Löwenzahns Streben nach Heldentum und ihr eigener Wunsch nach den Kräften der Jugend?
War die Hoffnung des Mädchens auf Menschlichkeit nicht gar der redlichste Wunsch von allen?
»Greifen wir an?« fragte Löwenzahn nach einem Augenblick beklemmenden Schweigens.
»Um zu sterben?« flüsterte Hagen verächtlich.
Der Riese funkelte ihn zornig an. »Was für ein Ritter seid Ihr eigentlich, Hagen von Tronje?«
»Einer, der des Heldentums müde ist. Aber wie könntet Ihr das verstehen...«
Löwenzahn wollte auffahren, doch Mütterchen legte ihm besänftigend eine Hand auf den Unterarm. »Ich glaube«, sagte sie dann und blickte dabei Hagen eingehend an, »dies ist der Augenblick, an dem wir uns entscheiden müssen, welches unsere Ziele sind. Falls es unterschiedliche sind, sollten wir uns trennen.«
»Trennen?« Hagen starrte hochmütig zurück. »Glaubt Ihr denn, es könnte Euch gelingen, allein gegen die Männer dort draußen zu bestehen?«
»Genausowenig wie Euch. Eure Wunde näßt und entzündet sich. Wie schnell könnt Ihr noch laufen, Ritter? Gegen wen wollte Ihr kämpfen, wenn es dazu kommt? Gegen den toten Drachen?«
Hagen seufzte leise. »Was also gedenkt Ihr zu tun, Frau Räuberin?«
Sie fragte sich, ob er ihr durch die Betonung ihrer Vergangenheit zu verstehen geben wollte, wie lange es her war, daß sie zuletzt eine solche Entscheidung getroffen hatte. Plötzlich fühlte sie wieder die Last der Verantwortung - wenigstens für Löwenzahn und sich selbst -, und Zweifel brachen über sie herein. Vielleicht war sie wirklich zu alt. Vielleicht sollte sie das tun, was Hagen wollte. Aber sie zweifelte nicht, daß Alberich dann den Tag nicht überleben würde.
Es sei denn, so kam es ihr in den Sinn, daß Hagen mehr an dem Horthüter lag, als er zugeben wollte. War es nur das Gold, auf das er aus war? Hatten ihn die Schätze des Geweihten hierhergeführt, ohne Wissen seines Königs? War es jetzt der Nibelungenhort selbst, der ihn lockte?
Mit einem scharfen Blick in die Augen des Ritters erklärte sie ihren Plan.
Kapitel 5
Mit versteinerter Miene stand Alberich am Fuß der hohen Seilwinde und beobachtete die Vorbereitungen der Krieger. Eben noch hatten sie geflucht über die geringe Menge von Drachenblut, die sich im Auffangbecken gesammelt hatte; jetzt aber schienen sie ihre Enttäuschung vergessen zu haben und machten einen von ihnen für den Abstieg in die Tiefe bereit. Sie legten ihm eine Seilschlinge um, die ihn sicher tragen sollte, dann schwangen sie ihn über die Kante und ließen ihn langsam an der Winde hinab.
Der Geweihte stand einige Schritte abseits seiner Männer und beobachtete erhobenen Hauptes deren Mühen. Äußerlich wirkte er überlegen und ruhig, aber Alberich spürte, wie verzehrend die Gier in ihm brannte.
Die Männer hatten nicht auf den Befehl ihres Anführers gewartet, sondern auf eigene Faust mit den Vorbereitungen für den Abstieg begonnen. Alberich hatte den Geist der Rebellion gefühlt, der in der Luft lag. Und er hatte begriffen, daß der Geweihte die Sklaven nur aus einem einzigen Grund geopfert hatte: um seine Männer auf andere Gedanken zu bringen und ihre Wut von ihm selbst abzulenken. Er konnte nicht riskieren, daß sie ihn der Lüge überführten - denn nichts anderes war es gewesen, als er jedem von ihnen ein Bad im Drachenblut versprochen hatte. Eine Meuterei aber war das letzte, das er in diesem Augenblick gebrauchen konnte.
Trotzdem verstand Alberich noch immer nicht die weiteren Pläne des Geweihten. Warum der Tunnel in den Kadaver des Drachen? Und was hatte er, Alberich Horthüter, damit zu schaffen?
»Langsamer!« rief einer der Krieger, der auf dem Bauch am Rand der Klippe lag und über sie hinaus in den Abgrund blickte. »Er ist gleich da.«
Andere gesellten sich neugierig neben ihn und schauten gleichfalls hinunter. »Jetzt steigt er ins Becken«, brüllte einer erwartungsvoll den Zurückgebliebenen an der Seilwinde zu.
Alberich sah, daß ein bitteres Lächeln über das Gesicht des Geweihten zuckte. Oder war es wieder nur ein Schattenspiel der Hornspitzen? Nein, er war ganz sicher: Etwas erheiterte den Geweihten.
Ein qualvoller Schrei drang aus der Tiefe empor, erst nur verhalten, dann in plötzlichem Begreifen so gellend, daß einige der Männer die Hände vor die Ohren schlugen. Er wurde nicht leiser, ganz im Gegenteil; der Mann stürzte also nicht. Irgend etwas anderes war geschehen.