Alberich sprang vor, robbte an die Felskante und blickte nach unten.
Zum ersten Mal sah er das Becken und das Blut darin.
Er sah auch das, was das Blut aus dem Mann gemacht hatte.
Der Krieger hatte sich am Seil direkt in das rechteckige Becken geschwungen und war mit den Stiefeln darin zum Stehen gekommen. Das dunkelrote Blut des Drachen reichte ihm bis zu den Knöcheln. Wie unsichtbares Feuer hatte es sich in Windeseile durch Leder, Fleisch und Knochen gebrannt und die Füße des kreischenden Mannes verzehrt. Alberich sah noch, wie der Krieger nach vorne stürzte, sich mit Knien und Fingern im Blut aufstützte. Seine Hände und Unterschenkel zerfielen zu braunem Schlamm. Er begann in höchster Qual zu strampeln und um sich zu schlagen, rollte dabei mit Brust und Gesicht in die zähe Brühe. Seine Schreie verstummten, als das Drachenblut seine Kiefer zerfraß.
Augenblicke später erinnerten nur noch blasige Schlieren auf der Oberfläche an den Mann.
Einige Atemzüge lang herrschte völlige Stille. Niemand rührte sich, keiner wagte zu sprechen.
Dann, auf einen Schlag, brachen Chaos und Entsetzen über die Krieger herein. Jähes Begreifen zeichnete sich auf ihren Gesichtern ab. Die an der Kante gelegen hatten sprangen auf, einer zog gar sein Schwert, als wolle er seinen Zorn damit in Stücke schlagen. Allmählich ordnete sich das wilde Durcheinander zu einer einzigen Anschuldigung: »Betrug!« rief einer und deutete dabei auf den Geweihten.
Alberich dachte, dies sei ein feiner Weg, alle seine Sorgen loszuwerden. Die Krieger würden ihren eigenen Herrn angreifen, einige würden sich auf seine Seite stellen, und am Ende meuchelten sich alle gegenseitig. Ja, das wäre eine gute Sache gewesen.
Aber natürlich war das Schicksal anderer Ansicht.
»Haltet ein!« rief der Geweihte; ihm waren wohl ähnliche Gedanken durch den Kopf gegangen. »Ihr laßt euch von eurer Ungeduld leiten. Warum mußte einer von euch dort hinuntersteigen, ohne meinen Befehl abzuwarten? Warum verzehrt euch die Gier nach etwas, das ihr längst besitzt? Das Blut des Drachen ist unser, und niemand kann daran etwas ändern.«
»Aber es tötet uns!« brüllte einer erzürnt, fuhr aber zusammen, als der Blick des Geweihten ihn traf.
»Nein! Es ist eure Ungeduld, die euch tötet. Das Blut muß behandelt werden, mit der Magie des Alten Volkes. Mit einer Magie, die allein unser Zwerg hier besitzt!« Dabei deutete er triumphierend auf den verwirrten Alberich, der gleich den Kopf zwischen die Schultern zog.
Aller Augen richteten sich auf ihn. Einige abschätzig, andere mit unverhohlener Wut. Aus manchen sprach sogar Neid, und es waren jene, die Alberich die größte Furcht einflößten.
»Was wollt ihr von mir?« fragte er kleinlaut. Wenn er seine Geißel noch gehabt hätte, dann hätte er ihnen gezeigt, was in ihm steckte. Aber unbewaffnet, einer vielfachen Übermacht von Menschen ausgeliefert, die allesamt doppelt so groß waren wie er selbst - was blieb ihm da schon, als klein beizugeben?
Zwei Krieger sprangen vor und packten ihn grob an den Armen. »Was sollen wir mit ihm tun, Herr?«
Ihr Vertrauen in die Worte des Geweihten schien nach wie vor unerschütterlich. Alberich wehrte sich nur halbherzig. Von einem Augenblick zum nächsten war die Treue der Männer wiederhergestellt, keiner schien die Worte des Geweihten in Frage zu stellen. Jeder Gedanke an Meuterei war wie ausgelöscht.
Statt dessen richteten sich Zorn und Gier der Krieger nun auf den Zwerg.
Der Geweihte bemerkte es mit Genugtuung. »Bindet ihn an die Seilwinde. Dann laßt ihn hinunter. Er soll uns einen Krug voll Drachenblut heraufbringen.«
»Ihr wollt, daß es mir ebenso ergeht wie Eurem Krieger?« rief Alberich voller Entsetzen aus, doch die Worte gingen im Lärm der Kriegerschar unter, die gleich mit einer Vielzahl von Händen daran ging, den Befehl ihres Herrn in die Tat umzusetzen.
Wenige Augenblicke später wurde er mit einem hölzernen Eimer in der Hand über die Kante gestoßen. Er schrie auf, als er die ersten zwei Schritte in freiem Fall in die Tiefe sauste, dann hielt ihn die Seilschlaufe mit einem grausamen Ruck in der Schwebe. Seine Brust und seine Schultern schienen in Flammen zu stehen, so schrecklich war der Schmerz, als sich der Strick um seine Glieder zusammenzog. Einen Moment lang fürchtete er, sein ganzer Leib würde auseinandergerissen, doch dann ließ der Schmerz schlagartig nach. Mit strampelnden Beinen wurde Alberich in den Abgrund herabgelassen.
Sein Verstand arbeitete fieberhaft. Geist hatte recht gehabt mit ihrem Vergleich, daß die Klippe wie ein Vogelschnabel vorsprang. Die Felswand fiel nicht gerade nach unten ab, sie wölbte sich vielmehr unterhalb des Plateaus nach innen. Alberich würde am Seil hin- und herschwingen müssen, um den Rand des Auffangbeckens zu erreichen. Das Schwindelgefühl machte ihn ganz verrückt, die Landschaft um ihn herum verschwamm zu grellem Farbflackern. Weit, weit unter ihm umspülte der Rhein den Fuß der Klippe. Die Leichen der Sklaven waren verschwunden, die Strömung mußte sie fortgerissen haben.
Und wenn sie doch noch da waren, gleich unter der Oberfläche? Wenn Alberich in die Tiefe stürzte und den Aufprall überlebte - nur um dann von eisigen Totenhänden zum Grund des Flusses gezerrt zu werden? Diese Vorstellung nahm auf einmal sein ganzes Denken ein. Immer wieder sah er sich in der düsteren Tiefe, während die Leichen mit schnappenden Klauen um ihn in der Dunkelheit schwebten.
Auch die Melodie stellte sich wieder ein, ein schrilles Auf und Ab von Tönen, das sich immer tiefer in seine Erinnerung brannte.
Als die Krieger bemerkten, daß der Zwerg nicht von selbst die Kraft aufbrachte, vor und zurück zu schaukeln, brachten sie selbst die Seile zum Schwingen. Die plötzliche Bewegung riß Alberich aus dem panischen Taumel seiner Schreckensbilder. Der Beckenrand kam näher, er versuchte, ihn zu fassen, doch seine freie Hand griff ins Nichts. Schon schwang er wieder zurück, fort von der Felswand, in die absolute Leere über dem Fluß. Wieder vor, wieder zurück.
So ging es mehrmals, und dabei gelang es ihm zum ersten Mal, die Konstruktion des Beckens genauer zu betrachten. Es war ein viereckiges Gebilde aus Balken, von einem Spinnenetz aus Brettern und Stämmen waagerecht in der Steilwand gehalten. Eine Brüstung, die Alberich fast bis zur Schulter reichte, umgab das eigentliche Becken, das mit einer schwarzen Schicht, augenscheinlich Pech, abgedichtet war. Wenn er sich nicht täuschte, maß es mindestens sechs mal vier Menschenschritte.
Er fragte sich, wie viele Sklaven beim Bau dieser Konstruktion ihr Leben gelassen hatten. Er stellte sich vor, wie sie an Stricken vor den Felsen gebaumelt hatten wie ein Heer von emsigen Spinnen, bewaffnet mit Hämmern und Nägeln und Balken.
Wieder raste er mit Schwung auf das Becken zu, und diesmal gelang es ihm, sich mit beiden Armen daran festzuklammern. Der Eimer schepperte aus seiner Hand lautstark in die Mitte des Beckens. Von oben erklangen aufmunternde Rufe, der schlimmste Hohn von allem.
Ächzend kämpfte Alberich sich auf den oberen Rand der Brüstung und blieb dort sitzen. Vor ihm lag das rote Rechteck des Beckenbodens, doppelt handbreit mit dem Blut des Drachen bedeckt. Er blickte an der Steilwand nach oben und entdeckte den Stollen, der zwei Schritte über dem Becken in den Fels führte. Der Blutstrom war längst versiegt. Unterhalb der Öffnung war ein Rinnsal am Stein zu brauner Schlacke geronnen.
Was war mit den Männern geschehen, die sich im Stollen befunden hatten, als der Durchbruch zum Grund des Blutsees gelang? Hatte das hervorschießende Blut sie in den Rhein gespült? Oder war es ihnen ebenso ergangen wie dem Krieger? Letzteres, vermutete Alberich - und wurde sich im selben Augenblick erneut seiner Lage bewußt. Die Anstrengung, das Becken zu erreichen, hatte ihn eine Weile lang so sehr beschäftigt, daß alles andere nebensächlich geworden war. Jetzt aber, da er auf dem Balkenrand kauerte und auf die Oberfläche des Drachenblutes hinabstarrte, traten ihm wieder die Bilder des zerfressenen Mannes vor Augen.