Oben wurden abermals Rufe laut. Die Krieger forderten ihn auf, endlich hinab ins Blut zu steigen und einen Eimer voll herauszuschöpfen.
Der Eimer! Da lag er, inmitten des Beckens. Unversehrt!
Wie war das möglich? Das Blut hatte auch die Kleidung des Kriegers zersetzt. Nichts war übriggeblieben. Warum also blieb der Eimer heil? Und, überhaupt, weshalb konnte das Becken selbst der zerstörerischen Macht des Blutes widerstehen?
Alberich glaubte nicht, daß es am Holz lag. Der Krieger hatte Fell und Leder und Eisen getragen, und sicher auch den einen oder anderen Holzknopf. Wären sie unbeschädigt geblieben, hätten sie an der Oberfläche schwimmen müssen. Aber da war nichts, gar nichts!
Ein heftiger Ruck an den Seilen ließ ihn beinahe wieder nach hinten stürzen. Gerade noch gelang es ihm, sich am Balken festzuklammern und seinen Fall zu verhindern. Die Krieger an der Winde wurden ungeduldig. Mehr als das: Sie schrien und fluchten vor Zorn, drohten ihm mit Höllenqualen und Schlimmerem. (Das war es tatsächlich, was sie riefen - »Schlimmeres« -, was auch immer sie darunter verstehen mochten; Alberich war allerdings nicht begierig darauf, es am eigenen Leibe zu erfahren.)
Instinktiv zerrte er an den Knoten und Schlaufen, die ihn hielten. Doch jeder Versuch, sie zu lösen, war vergebens. Die Männer hatten ganze Arbeit geleistet, als sie ihn derart verschnürten. Auch besaß er kein Messer, mit dem er das Seil hätte kappen können. Die Erkenntnis, daß er ihnen auf Gedeih und Verderben ausgeliefert war, warf ihn in tiefe Verzweiflung. Er mußte tun, was sie verlangten. Mit den Füßen ins Blut steigen.
Er versuchte, ein Stück Stoff aus seinem Wams zu reißen, um es versuchsweise unterzutauchen, aber selbst das wollte ihm nicht gelingen. Seine Finger zitterten - allein von der Höhe, sagte er sich wieder und wieder -, und er fürchtete, seine Füße würden ihn nicht tragen, wenn er sie ins Becken stellte. Vorausgesetzt, das Blut zerfraß sie nicht innerhalb eines einzigen Herzschlags.
Wieder wurde an den Seilen gezerrt, und das gab den Ausschlag. Alberich schloß die Augen und ließ sich vom Rand ins Becken gleiten. Das Blut umschloß seine Füße, reichte ihm bis zu den Waden.
Wenigstens tut es nicht weh, dachte er.
Als er zaghaft die Augen öffnete, waren seine Füße noch da, wo sie hingehörten. Kein unsichtbares Feuer, das sie verzehrte. Nur das allmählich dickflüssig werdende Blut, das sie aufgesogen hatte wie roter Morast. Die Krieger oben auf der Klippe machten schäbige Witze über ihn; jedenfalls lachten sie grob. Vielleicht war es auch nur ein Zeichen ihrer Erleichterung.
Einen Augenblick lang fragte er sich, was der Geweihte gerade tat. Er schien nicht bei ihnen zu sein, denn er hörte seine Stimme nicht mehr. Möglicherweise stand er wieder stumm im Hintergrund, ein dräuender Schatten, halb Mensch, halb Zauberwesen.
Angewidert stapfte Alberich vorwärts, packte den Eimer und schabte damit über den Beckenboden. Er füllte sich zu zwei Dritteln.
»Und nun?« brüllte er mit schwankender Stimme nach oben.
Zu seinem jähen Schrecken schwankte nicht allein seine Stimme - auch das Becken hatte unter seinen Schritten zu beben begonnen. Offenbar war es weniger fest verankert, als er angenommen hatte.
Als Antwort auf seine Frage sauste ein einzelnes Seilende in die Tiefe, beschwert mit einem Stein. Hastig wurde es drei-, viermal vor und zurück geschwungen, dann gelang es Alberich, den Stein zu packen. Er war viel schwerer, als er vermutet hatte, und so groß wie sein Kopf. Das Gewicht ließ ihn stolpern. Mit den Knien fiel er mitten ins Blut. Wieder wackelte die ganze Konstruktion.
Auf der Klippe wurde neuerliches Lachen laut. Die Gesichter, die sich über die Felskante reckten, grinsten schadenfroh.
»Binde den Eimer am Seil fest!« rief eine Stimme von oben. »Aber gib acht! Wehe, du vergießt einen Tropfen!«
Was willst du dann tun? dachte er wütend. Runterkommen und mich erschlagen? Aber er sagte nichts und versuchte, den Stein vom Seil loszubinden.
»Es geht nicht!« rief er schließlich hinauf. »Ihr habt die Knoten zu fest gemacht.« Das war die Wahrheit; der Stein ließ sich mit aller Mühe nicht von dem Strick lösen.
»Dann knote das Seil eben mit dem Stein am Eimer fest!« kam die ungeduldige Antwort.
»Unmöglich. Der Stein paßt nicht unter den Griff. Ich muß ihn abschneiden.«
Was er selbst nicht für möglich gehalten hatte, geschah: In weitem Bogen wurde etwas auf ihn zugeschleudert und fiel unweit von ihm ins Blut. So dumm konnten sie nicht sein! durchfuhr es Alberich ungläubig. Aber als er die Hand ins Blut tauchte und mit den Fingern über den Grund des Beckens tastete, bewahrheitete sich seine Hoffnung. Es war ein Dolch!
Über ihm brach ein Streit aus. Der Krieger, der seine Klinge hinabgeworfen hatte, wurde lautstark gescholten.
Schließlich brüllte eine Stimme: »Paß auf, was du tust, Zwerg! Wir haben dich schneller hochgezogen, als du glaubst!«
Damit mochten sie wohl recht haben. Tatsächlich aber beschäftigte Alberich in diesem Moment etwas völlig anderes. Immer noch steckte seine Hand im dickflüssigen Blut des Drachen. Es war das erste Mal, daß es direkt mit seiner nackten Haut in Berührung kam.
Die Melodie überkam ihn mit solcher Wucht, daß er abermals zurücktaumelte, aufs Hinterteil fiel und sich mit beiden Händen abstützen mußte. Das Blut umschloß zäh seine Finger, kroch an seinen Armen hinauf bis zu den Ellbogen. Kroch wie ein lebendes Wesen!
Diesmal war die Melodie nicht irgendwo in den Weiten seines Hirns, sondern direkt hinter der Stirn, auch in seinen Ohren. Und sie klang mehr und mehr wie Hilferufe.
Es lebt! schoß es ihm durch den Kopf.
Nur deshalb war noch immer ein Teil davon flüssig. Nur deshalb vermochte es selbst zu entscheiden, wen oder was es zersetzte und wer davon unberührt blieb.
Das Blut, in dessen Mitte er saß, lebte!
Doch warum verschonte es gerade ihn?
Die Melodie trat abermals hinter seine eigenen Gedanken zurück. Sie war nicht fort, aber doch leise genug, daß er versuchen konnte, wieder zu klarem Verstand zu kommen.
Die Rufe und Drohungen der Krieger wurden lauter. Eilig machte er sich daran, den Stein vom Seil zu schneiden. Dann knotete er das Ende um den Eimergriff und gab den Kriegern zu verstehen, sie sollten ihn vorsichtig hinaufziehen.
Aller Augen waren auf den Eimer gerichtet, der jetzt langsam und pendelnd nach oben schwebte.
Das war genau die Ablenkung, auf die Alberich gewartet hatte. Eilig machte er sich daran, das Seil, das sie ihm um Brust und Schultern geschlungen hatten, zu zerschneiden. Es ging viel schwerer, als er gehofft hatte, denn der Strick war dicker und fester gedreht als jener, der den Eimer trug. Jeden Moment konnten sie bemerken, was er tat. Sie würden ihn aus dem Becken zerren, bevor er sich gänzlich befreien konnte. Wenn er Pech hatte, würde das Seil gerade dann reißen, wenn er frei in der Luft hing.
Der Eimer hatte die Felskante fast erreicht, als das Unvermeidliche geschah.
»Zieht den kleinen Bastard hoch!« schrie einer. »Er zerschneidet den Strick!«
Sogleich straffte sich die Schlaufe um Alberichs Körper. Noch immer hielt das Seil, war etwa bis zur Hälfte durchgesägt. Der Ruck zerrte den Zwerg quer durch das Drachenblut, bis er von oben bis unten damit bedeckt war. Sein Kopf prallte gegen die Brüstung, doch immer noch schnitt er tiefer und tiefer ins Seil. Seine Schultern glitten an den Balken empor, als die Seilwinde sich unaufhaltsam drehte und ihn nach oben zog. Schon blickte er über den Rand hinweg in den Abgrund, wieder schwindelte ihm - und da endlich riß das Seil. Peitschend lösten sich die Schlaufen, schnitten heiß in seine Haut. Mit einem Klatschen fiel er zurück ins Becken. Die Seilenden tanzten wie zappelnde Schlangen über dem Abgrund.