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Das Brüllen kam näher. Geist mußte sich zusammenreißen, um sich nicht ebenfalls umzudrehen. Jede hastige Bewegung mochte sie verraten.

Doch die Moosfräulein sind bekannt für ihre kindliche Neugier, und Geist war keine Ausnahme. Schließlich gab sie ihrem angeborenen Vorwitz nach, hob die Schultern vom Heidekraut und drehte ihren Kopf.

Ein Koloß stürmte vom Waldrand über die Heide. Schwertschwingend stieß er eine Reihe wilder Schreie aus und rannte auf die Krieger am Klippenrand zu.

Es war Löwenzahn, und sein Gesicht brannte.

Nicht sein Gesicht! erkannte Geist mit kaltem Schrecken. Sein Bart stand in Flammen, ein lodernder Feuerball, der eine schwarze Spur aus Rauch hinter sich herzog. Für die Krieger mußte es aussehen, als sei der Feuergott selbst vom Himmel herabgestiegen.

Der Schmerz mußte grauenvoll sein, aber gleichzeitig schien er Löwenzahn anzutreiben, stürzte ihn in einen Berserkerzorn, dem keiner der zwanzig Drachenkrieger entrinnen konnte.

Die ersten ließen von der Seilwinde ab und liefen dem Riesen mit zögernden Schritten entgegen. Auf halbem Weg zwischen Wald und Klippe trafen sie aufeinander. Löwenzahns Schreie wurden immer grauenvoller, er fällte die beiden ersten Gegner mit einem einzigen Schlag und riß die Klinge empor, um sich den nächsten entgegenzustellen. Einer brach zusammen, bevor er den Koloß überhaupt erreichte; ein Pfeilschaft mit schwarzen Rabenfedern ragte aus seiner Kehle.

Löwenzahn nutzte die Atempause, um die Flammen vor seiner Brust mit dem Umhang des Toten zu löschen. Sein Gesicht rauchte, und sein Kinn war von Blasen entstellt, doch er schien die Schmerzen nicht mehr zu spüren. Immer mehr Krieger warfen sich ihm nun entgegen, einige wurden von Pfeilen gefällt, doch viele kamen bis zu ihm durch. Ein wildes Gerangel aus blitzenden Schwertern, blutigen Leibern und dem Schreien der Verwundeten nahm seinen Anfang, immer wieder übertönt von Löwenzahns Gebrüll.

Am Waldrand erkannte Geist eine Gestalt mit wallendem grauem Haar, die einen Langbogen in Händen hielt. Pfeil um Pfeil sandte sie zu Löwenzahns Unterstützung über die Heide. Ein finsteres Lächeln spielte um Mütterchens Lippen, als sie feststellte, daß ihre Zielsicherheit in den vergangenen Jahren kaum nachgelassen hatte.

Und noch jemanden entdeckte das Moosfräulein. Ein finsterer Krieger, ganz in Schwarz gekleidet, mit flatterndem Umhang und einem Kragen aus Rabenfedern, pirschte in weitem Bogen um die Kämpfenden herum und näherte sich der Seilwinde. Hagen von Tronje zog das verletzte Bein noch stärker nach als vor wenigen Stunden, als sie den dreien im Wald begegnet war. Mit verbissener Miene näherte er sich seinem Ziel. Auch die letzten Drachenkrieger hatten ihren Platz an der Klippe verlassen und waren dem wütenden Löwenzahn entgegengestürmt. Die Winde war unbewacht.

In all der Aufregung hatte Geist fast vergessen, in welcher Gefahr sie selbst sich befand. Als sie nun hastig zurück zum Drachen schaute, wurde ihr der Blick von den Beinen des Geweihten versperrt. Er hatte Horn und Bluteimer am Kadaver zurückgelassen und stand nur noch einen Schritt vor ihr, starrte kalt zu ihr herab. Im gleichen Moment schossen seine Hände vor, die Finger zu Klauen gekrümmt.

Geist wälzte sich blitzschnell herum, um seinem Griff zu entgehen. Flink wollte sie auf die Beine springen und die Flucht ergreifen, doch der Geweihte entwickelte eine unerhörte Schnelligkeit und Kraft. Seine Hände packten das nackte Mädchen am linken Arm. Ein seltsames Kribbeln durchfuhr sie, wo seine Finger sie berührten. Ein bestimmter Teil ihrer selbst schien etwas in ihm zu erkennen, seine Gleichartigkeit zu begreifen, die Verwandtschaft zu akzeptieren. Doch als seine Hände fester zudrückten und sie mit Gewalt vom Boden rissen, da verflüchtigten sich solche Gedanken. Was blieb, waren Furcht und tiefempfundene Abscheu.

Sie versuchte, ihn zu treten und mit den Zähnen nach ihm zu schnappen, doch der Geweihte lachte nur leise über ihre vergebliche Gegenwehr. Wie ein unwilliges Stück Vieh zerrte er sie zur offenen Flanke des Drachen, direkt vor den Spalt zwischen den Rippen. Der Tunnel durch die Eingeweide der Bestie war pechschwarz.

»Du wirst etwas für mich tun«, zischte der Geweihte ihr ins Ohr. »Ich will, daß du -«

Geists Aufschrei unterbrach ihn. Gellend rief sie nach Löwenzahn und Mütterchen, bis sich die Hand des Geweihten auf ihren Mund legte und sie zum Schweigen brachte.

»Dein Freund, der Zwerg, hat sich verkrochen. Bedank dich bei ihm, daß es nun dich trifft, mein Kind.« Sein starrer Blick senkte sich böse in das unschuldige Blau ihrer Augen. »Du wirst mir gehorchen! Deine Gefährten werden dir nicht zu Hilfe kommen. Du bist kein Mensch wie sie, du bedeutest ihnen nicht mehr als der Baum, den sie fällen, damit es warm wird in ihren Stuben. Begreif das endlich! Wir sind anders als sie, vollkommen anders.«

Es gelang Geist, ihre Zähne in seine Finger zu schlagen. Ruckartig zog er seine Hand von ihrem Mund. »Irgendwann werde ich ein Mensch sein«, spie sie ihm verächtlich entgegen. »Ich bin jetzt schon menschlicher als du.«

Er lächelte. »In deinen Träumen und Hoffnungen. Gleich wird sich erweisen, ob wirklich etwas Menschliches in dir steckt. Ich wollte es selbst wagen, aber besser ist, du gehst voraus.«

»Was hast du vor?« Sie überlegte, ob sie abermals um Hilfe rufen sollte, als sie plötzlich die Melodie hörte. Sie hatte sie schon vorher vernommen, auf ihrem Weg hierher, einmal sogar daheim, in den Wäldern rund um Obbos Wirtshaus. Ihr war nie der Gedanke gekommen, daß die Folge klingender Töne eine Lockruf, ein Wegweiser sein könnte.

»Jetzt hörst du es wieder, nicht wahr?« wisperte der Geweihte ihr ins Ohr. »Ich kann es auch hören, leiser als du, aber ich höre es. Willst du ihm nicht helfen? Spürst du nicht auch das Verlangen, die Qualen dieser Kreatur zu beenden?«

»Welcher Kreatur?« stammelte sie verwirrt, obgleich sie es ahnte.

Der Geweihte deutete auf den Kadaver. »Sieh ihn dir an! Schau, wie er daliegt, verstümmelt, entstellt.«

»Deine Männer waren es, die ihm die Zähne aus den Kiefern rissen, und die ihm... das hier antaten.« Sie zeigte auf das klaffende Loch in der Flanke.

»In seinem Auftrag«, widersprach der Geweihte, »zu seinem Besten.«

»Du willst ihn zurück ins Leben rufen?«

»Ihn befreien aus den Ketten des Todes, ihm das Leben geben, das sein war, länger als jedem anderen Wesen. Er ist so alt wie die Berge selbst, älter als der Fluß und die Reiche an seinen Ufern. Und er ist der letzte seiner Art. Er hat es nicht verdient zu sterben. Seine Stärke, seine Klugheit, die List, die er in sich trägt - kein Wesen kommt ihm darin gleich. Er ist der Drache, von dem wir alle irgendwann gehört haben, in Legenden und den Geschichten der Alten. Und jetzt liegt er vor dir, du hörst seine Hilfeschreie, und du willst dich ihm verweigern? Ist das wirklich dein Ernst?«

Sie zitterte am ganzen Leib, hatte keine Gewalt mehr über ihre Glieder. »Warum tust du es nicht selbst, so wie du es vorgehabt hast?«

»Weil mir an seiner Dankbarkeit liegt. Was nutzt sie mir, wenn ich tot bin? Wird er den Zauber in mir erkennen, wenn ich seinen Leib betrete? Oder wird er mich verschlingen, so wie jene, die diesen Tunnel gruben? Niemand weiß es. Wir allein, die wir das magische Blut der Alten in uns tragen - der Zwerg und du und ich -, vermögen seinen Ruf zu hören. Er schadet nicht jenen, die von seiner Art sind, so wie ihr beiden. Du wirst in ihn eindringen und seinem Herzen das eigene Blut darbringen, während ich das Drachenlied spiele, als Antwort auf seine Klagegesänge. Und der Lindwurm wird zu neuem Leben erwachen, geschwächt zwar, aber mächtiger als jede Kreatur diesseits und jenseits des Stroms.« Ein schwarzes Lodern zuckte in seinen Augen. »Er wird wissen, wem er Dankbarkeit und Demut schuldet.«