Geist fragte sich, was aus Mütterchen, Löwenzahn und dem Ritter geworden war. Sie hatten ihre Hilfeschreie nicht gehört. Oder wollten sie sie nicht hören? Das Klirren aufeinanderschmetternder Klingen dröhnte über den Kadaver hinweg an ihr Ohr. Löwenzahn schien den Gegnern immer noch standzuhalten.
»Du wirst es tun!« sagte der Geweihte noch einmal. Wieder schien es, als bewegten sich die Schatten der Geweihmaske über sein Gesicht. Was immer an Menschlichem noch in ihm war, es hatte den Widerstand gegen den Zauber längst aufgegeben. Geist fragte sich, ob ein Großteil dieses Zaubers nicht schlichter Wahnsinn war, von uralten Mächten verdreht und verrenkt, bis er den Anschein von etwas Magischem hatte.
Als er seinen Griff um ihre Oberarme lockerte, da war ihr, als weiche ein Gespenst aus ihrem Denken, ein Hauch von Kälte, der alle ihre Sinne erbeben ließ. An seine Stelle trat wieder die Melodie, die Qual des Drachen, die sich mehr und mehr auf sie selbst übertrug. Sie mußte es beenden, mußte ihm geben, was er verlangte, damit die Pein dieses Wesens vorüberging.
Sie nickte dem Geweihten zu, mit der Selbstverständlichkeit eines Traumes. Ja, sie würde in den Drachen eindringen. Und sie würde tun, was nötig war, seinen Leib mit neuem Leben zu befruchten.
Er war ihresgleichen, sie war wie er. Sie spürte diese Verwandtschaft mit jedem Augenblick deutlicher, und sie erfüllte sie mit heißem Glück.
Geist akzeptierte ihr eigenes Wesen gemeinsam mit dem seinen, sie wußte, wer sie war.
Endlich war sie bereit.
Für den Drachen, für sich selbst.
Kreischend brach der erste Balken aus seiner Verankerung. Alberich trat und stampfte, bis das Drachenblut über seinen Kopf hinaus spritzte, sprang voller Wut umher, bis abzusehen war, daß die gesamte wacklige Konstruktion in den nächsten Augenblicken aus der Wand splittern würde. Da stieß er sich mit beiden Füßen ab, bekam den Rand der Stollenöffnung zu fassen und zog sich mit letzter Kraft nach oben. Unter ihm gaben die Stützbalken nach, Seile rissen, und Nägel wurden aus dem Holz gezerrt. Einen Augenblick lang sah es aus, als wollte sich das ganze Becken zusammenfalten wie ein Stück Pergament, dann ertönte ein Knirschen, und das sperrige Gebilde stürzte taumelnd in die Tiefe. Immer wieder prallten seine Ecken unter Getöse an die Felswand, weitere Bretter lösten sich, und eine dunkelrote Blutfontäne ergoß sich in den Abgrund. Als das Becken auf dem Fluß zerschellte, breitete sich rundherum ein Strudel aus rotem Schaum aus, der eilig von den Wogen davongetragen wurde. Innerhalb weniger Herzschläge waren nur noch ein paar Latten zu sehen, die wie Spuren eines Schiffsuntergangs nach Norden trieben, schwarzes, splittriges Treibholz.
Alberich kauerte im Eingang des Stollens und blickte den Trümmern mit wilder Befriedigung nach. Der Geweihte und seine Männer würden das Drachenblut nicht mehr mißbrauchen. Die Melodie in seinem Schädel setzte einen Moment lang aus, kehrte aber wieder, als er durch den Stollen ins Innere der Felswand blickte. Es war noch nicht vorüber.
Erst allmählich dämmerte ihm die Ausweglosigkeit seiner Lage. Der Stollen mußte im leeren Hohlraum des Blutsees enden, unterhalb der oberen, versteinerten Schichten. Von dort aus gab es keinen Ausgang. Oben an der Kante wiederum lauerten die Krieger des Geweihten, und er sah bereits bildhaft vor sich, wonach ihnen der Sinn stehen würde, wenn sie ihn in die Finger bekämen.
Eines aber stimmte ihn nachdenklich. Eine ganze Weile schon war kein Versuch mehr unternommen worden, ihn von seinem Zerstörungswerk abzuhalten. Keine Pfeile und Armbrustbolzen mehr, keine weiteren Männer, die abgeseilt wurden. Der Tote baumelte noch immer auf Höhe des Stollens im Wind, sein zertrümmertes Gesicht war Alberich anklagend zugewandt. Niemand schien es für nötig zu halten, ihn abzuschneiden oder hochzuziehen.
Reichte dem Geweihten ein einziger Eimer mit Drachenblut? Seine Männer zumindest würden sich kaum damit zufrieden-geben.
Ein eiskalter Wind peitschte um die Klippe. Der zugige Stolleneingang wurde von tückischen Böen heimgesucht, die Alberich fast in den Abgrund rissen. Gerade wollte er sich tiefer in den Gang zurückziehen, als er einer Bewegung am oberen Felsrand gewahr wurde.
Ein hageres Gesicht schob sich über die Kante. Der Mann hatte nur ein Auge. Ein Windstoß trieb einen Kranz aus Rabenfedern um seinen Hinterkopf; es sah aus wie ein schwarzer Heiligenschein.
Alberich begann am ganzen Leib zu zittern, als er sich an die Gestalt aus der Sturmnacht erinnerte. An Wodan, den Herrn aller Götter. An den Rabengott.
Die Erscheinung riß den Mund auf, brüllte gegen den tosenden Wind etwas zu ihm herunter und zog sich wieder zurück. Wenig später wurde eine Seilschlaufe herabgelassen, abermals beschwert mit einem Stein. Alberich bekam sie zu fassen, fragte sich verzweifelt, auf was er sich da einließ, und schlang sich den Strick um den Leib. Er zog und zerrte, bis die Schlaufe fest um seine Brust und Achseln lag.
Dann stieß er sich mit geschlossenen Augen von der Felswand ab und raste hinaus in den Abgrund.
Das blutrote Licht des Morgens verblaßte, als das Moosfräulein den ersten Schritt ins Innere des Drachen tat. Fremde Gerüche umwogten sie. Ihre Haut verfärbte sich unkontrolliert in rasender Folge, mal braun, mal grün, mal schwarz, dann wieder alle Farben zugleich, ohne daß sie selbst einen Einfluß darauf hatte. Rote Muster zuckten über ihre Glieder, vermischt mit Gelb und Blau und Weiß - Farben, die ihr früher fremd gewesen waren. Seltsame Linien und Zeichen erschienen, manche wie Runen, andere wie die Kritzelei eines Kindes. Etwas geschah mit ihr, mit ihrem Körper, und schließlich begriff sie, was es war.
Sie erblühte.
Die gelben und roten Schlieren und Punkte waren wie Knospen auf ihrem Leib, als sei der Weg des Heranreifens abgeschlossen und zeige nun stolz seine Früchte.
Ein seltsames Gefühl ergriff von ihr Besitz. Zum ersten Mal glaubte sie sich selbst als vollendetes Wesen zu begreifen, nicht als Anschein von etwas, das sie nicht war. Nicht als Mensch, der sich durch Krankheit von allen übrigen unterschied und sich schamvoll vor ihnen versteckte, sondern als ein Geschöpf aus gestaltgewordenem Zauber. Sie wollte nie wieder etwas anderes sein.
Blind tastete sich das blühende Moosfräulein durch den Tunnel im Leib des Drachen, fühlte mit der einen Hand über Wände aus versteinerten Muskeln und Eingeweiden, hielt mit der anderen den Eimer voller Blut. Von weit, weit hinten rief ihr der Geweihte etwas zu, doch es war längst unwichtig geworden. Seine Worte, seine Gesten - ohne Bedeutung. Alles, was zählte, war ihre Dankbarkeit, ihre Ehrfurcht vor dem Drachen für das, was er ihr schenkte. Er hatte es verdient, zu leben; und es war nur recht, daß sie diejenige war, die seine Auferstehung vollbrachte. Ein Akt des gegenseitigen Gebens stand kurz vor der Vollendung.
Der Drache war eine Kreatur wie sie selbst, der schwindende Schatten eines vergangenen Zeitalters. Vielleicht war es ja das, was ihnen allen bevorstand, ihr selbst, Alberich und dem Geweihten: das Verblassen im Morgengrauen einer neuen Zeit. Sie waren die letzten Rätsel einer Nacht, in der Geheimnis und Dunkel regiert hatten, und die Dämmerung drohte sie ein für allemal zu vertreiben.
Der Tunnel erstreckte sich länger und länger, schlängelte sich um blasigen Hüllen, die zu Stein erstarrte Organe sein mochten, kalt wie Kuppeln aus Eis. Geist hatte das Gefühl, sich längst nicht mehr im Inneren des Drachen zu befinden, denn obgleich er groß und massig war, so war dieser Stollen doch viel zu lang, um in dem Kadaver Platz zu finden. Die Rippensäulen am Eingang waren ein Tor zum gestaltgewordenen Dilemma ihrer Art. Geists Eintreten in den Leichnam war gleichzeitig ihr Einlaß in eine andere Welt. Sie tastete sich nicht durch den Drachen, sondern durch das, für was er stand, und in seinem Zentrum lag das Herz seiner Magie, das nur von einer wie ihr aus seiner Starre erweckt werden konnte.