Sie spürte, daß ihr Ziel nicht mehr fern war, irgendwo vor ihr in der Schwärze. Die Finsternis erfüllte sie mit einem Gefühl von Vertrautheit, denn es war die Finsternis des Mutterleibs, der sie geboren, nein, geschaffen hatte.
Und dann lag das Herz vor ihr, ohne Form, ohne Körper, nur Erinnerung und Wärme. Geist versprühte das Drachenblut in die Dunkelheit, längst in der Gewißheit, daß es ein leerer, bedeutungsloser Akt war. War es nicht vielmehr ihre Anwesenheit, die den Zauber zu neuem Leben erweckte? Wieder dachte sie an den Vorgang der Befruchtung, und sie verstand, daß alles, was sie tat, damit im Einklang stand. Der Geweihte hatte nichts begriffen. Instinktiv hatte er bestimmte Dinge erkannt, etwa den Eintritt in den Drachen und was er verursachen würde, doch seine Mittel waren sinnlos. Das Blut, die Hörner - sie waren nur Wegweiser wie das Drachenlied selbst, die Melodie, die sie hierhergeführt hatte. Am Ende aber waren sie unwichtig.
Vor ihren Augen löste sich auch das letzte Rätsel, das sie mehr als alle anderen beschäftigt hatte: Warum hatte der Drache dem Xantener, nachdem dieser ihn doch erschlagen hatte, das Geschenk der Unverwundbarkeit gemacht? Die Frage hatte ihr während der ganzen Reise keine Ruhe gelassen. Jetzt aber stand ihr die Antwort so klar und deutlich vor Augen, daß es ihr wie ein Wunder erschien, daß sie sie nicht vorher erkannt hatte: Sogar der Tod des Drachen war nur eine Stufe auf dem Weg. Denn nicht der Lindwurm war es, der die Fäden der Ereignisse zog. Es war der Zauber selbst, die Magie, die im Gefängnis des uralten Drachen geschlummert hatte und nach einem neuen, frischen Körper verlangte.
Jemand mußte kommen und sie zu neuer Blüte bringen. Es war eine Befruchtung, im einfachsten, natürlichen Sinne. Die Magie war eine Blume, die nach langem Winter zu neuer Pracht gedeihen wollte. Alles, was es brauchte, war die Biene, die den Samen in ihre Herz trug.
Vielleicht hätte der Geweihte selbst es vollbringen können, mit Sicherheit aber Alberich. Doch Geist war glücklich, daß die Wahl auf sie gefallen war.
Und nun war sie hier. Im Mittelpunkt dessen, wo alles begonnen hatte und von neuem beginnen würde.
Um sie herum erstrahlte die Dunkelheit in neuem Leben, Farben schlugen wie Meereswogen empor. Die Magie, so lange im Leib des greisen Drachen gefangen, war erwacht und gedieh mit der Macht des jungen Frühlings.
Es begann, als Alberich und Hagen gemeinsam zum Drachen eilten. Wie ein Spinnennetz rasten Risse über die Schuppenhaut, schwarze Blitze, vielfach verästelt.
Alberich sah, wie der Geweihte mit einem Horn in der Hand zurücktaumelte, bevor er noch die Zeit fand, hineinzustoßen. Der Drachenzahn entglitt seiner Hand und fiel achtlos zu Boden.
Jene Drachenkrieger, die nicht Löwenzahns Hieben oder Mütterchens Pfeilen zum Opfer gefallen waren, stolperten verwirrt auseinander, die Blicke gebannt auf den Kadaver gerichtet. Löwenzahn erschlug sie der Reihe nach, ohne Gnade und ohne zu begreifen, was vor sich ging. Dann erst folgte er ihren letzten Blicken und erstarrte.
Mütterchen taumelte aus dem Unterholz des Waldes und ließ Hagens Bogen fallen. Sie zog den schwarzen Köcher vom Rücken und schleuderte ihn beiseite; die letzten Pfeile wurden über die Heide verstreut. Mit offenem Mund kam sie näher, unfähig ihren Blick vom Leichnam des Untiers zu wenden.
Hagen blieb schlagartig stehen, das verwundete Bein drohte einzuknicken. Sein schwarzer Handschuh spannte sich über den Fingerknöcheln, als seine Faust sich immer fester um den Schwertgriff krallte. Sein einzelnes Auge weitete sich.
Alberich lief einige Schritte weiter als der Ritter. Er mußte aus der Nähe sehen, was geschah. Ihm war, als sei nicht er ein Teil der Ereignisse, sondern vielmehr das Ereignis ein Teil von ihm selbst. Tief in sich spürte er, wie sich etwas regte, veränderte.
Die Steinkruste des Drachen zersplitterte.
»Er erwacht!« schrie Löwenzahn.
Doch Alberich dachte: Nein, nicht er, nicht der Drache. Etwas anderes stieg aus todesähnlichem Schlaf empor, aber es war nichts Schlechtes, nichts Böses.
Es ist wie ich, durchfuhr es den Zwerg.
Um sie herum begann die Heide zu blühen, in Rosa, Weiß und Lila.
Der Drache zerbarst in einer Eruption aus Staub und Gestein. Eine graue Wolke legte sich über die Klippe, und winzige Teilchen rieselten wie Asche eines Scheiterhaufens vom Himmel herab.
Und dort, wo eben noch der Drache gelegen hatte, in einem kargen Trümmerfeld wie Lavagestein, kauerte Geist mit angezogenen Knien, fest zusammengerollt und nackt wie ein Neugeborenes. Ihre Haut war rosa, weiß und lila, ein farbenprächtiges Abbild der Heide. Das Moosfräulein regte sich, streckte sich und schaute sich mit zusammengekniffenen Augen um.
Alberich rappelte sich von der Stelle auf, an die ihn der Druck der Eruption gestoßen hatte. So schnell ihn seine Beine trugen, rannte er auf das Mädchen zu.
Aus den grauen Wogen der Staubwolke brach eine weitere Gestalt hervor. Der Geweihte hatte das Drachenhorn mit beiden Händen gepackt, hielt es mit der Spitze nach unten über den Kopf. Schreiend schleppte er sich auf das Moosfräulein zu, um es mit dem Horn zu durchbohren.
Ein schwarzer Wirbel fuhr neben Alberich durch den Dunst, schoß an ihm vorüber auf den Geweihten zu. Stahl schimmerte blaß durch Aschewolken.
Es gab keinen Endkampf.
Hagen holte noch im Humpeln aus, traf auf den Geweihten, bevor der seinerseits das Mädchen erreichen konnte. Die Klinge wirbelte in weitem Bogen herum, brach durch die Hornrüstung wie durch morsches Geäst und schlug dem Geweihten den Kopf von den Schultern. Sein Torso wurde von der Wucht herumgestoßen, wirbelte zuckend zu Boden. Hagen brach neben ihm in die Knie.
Alberich und Mütterchen trafen gleichzeitig bei dem Moosfräulein ein, nahmen es sanft bei den Armen und führten es aus dem Trümmerfeld. Seine Farben flimmerten und flirrten, kamen erst zur Ruhe, als seine Füße die Heide berührten.
»Es ist vorbei«, sagte Mütterchen leise.
Geist sah aus, als wollte sie widersprechen, doch dann senkte sie nur ihren Blick und schwieg.
Als der Staub sich legte, ließen sie die Heide hinter sich. Ihr Weg führte sie entlang der Felskante nach Süden. Mütterchen ging neben Löwenzahn. An einer Hand führte sie das Pony. Sie hatte das Gesicht des Riesen dick mit Salbe und Kräutern bestrichen. Es sah aus, als sei ihm ein neuer Bart aus Unkraut gewachsen. Er klagte nicht über Schmerzen, obgleich sie doch alle wußten, wie weh seine Brandwunden tun mußten. Sie waren stolz auf ihn, und da war keiner, der es ihm nicht mehrfach versichert hatte.
»Sie werden Lieder über deine Heldentat singen«, sagte Mütterchen, und unter der Salbe verzog sich Löwenzahns Mund zu einem glücklichen Grinsen.
Alberich und Geist gingen schweigend, als dem Zwerg etwas einfiel. Er griff unter sein schmutziges Wams und zog ein Knäuel aus Binden und Tüchern hervor.
»Das gehört dir«, sagte er und reichte es dem Mädchen.
Das Moosfräulein zögerte einen Augenblick, dann nahm sie die Verbände widerstrebend entgegen. Als sie sie vor ihren schillernden Körper hielt, vor das Bunt des Frühlings auf ihrer Haut, da wirkten die Stoffe ungleich grauer und häßlicher.
Wortlos trat sie an den Rand der Felswand und warf die Verbände in den Abgrund. Flatternd schwebten sie in die Tiefe, wurden von Böen hin- und hergeschüttelt, von Aufwinden wieder empor getragen, um dann schließlich doch noch unten im Rhein zu landen. Eine Weile tanzten sie auf der Oberfläche, dann riß der Sog sie davon.
Die vier Gefährten standen am Abhang, blickten stumm auf den Fluß, und jeder hing stillen Gedanken nach, als Mütterchen plötzlich rief: