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»Seht nur, der Ritter!« Ihre Hand deutete zurück zur Heide, hoch oben auf der Klippe.

Hagen von Tronje stand an der Felsenkante, ein dräuender schwarzer Scherenschnitt, gestützt auf eine Krücke. Neben ihm erkannten sie den Pferdekarren. Die Hinterräder standen unweit des Abgrunds. Darüber funkelte und glitzerte es. Das Gold auf der Ladefläche war nicht mehr mit Erde bedeckt, es war um ein Vielfaches höher als zuvor. Hagen mußte den restlichen Schatz aus der Drachenhöhle aufgeladen haben.

Jetzt wandte der Ritter sich dem Karren zu, doch statt auf den Bock zu steigen und die Pferde voranzutreiben, löste er eine Klappe an der Rückseite. Das Holz kippte nach unten, und von der Ladefläche sanken Gold und Edelsteine, eine gleißende Flut, die sich an der Felswand hinunter in die Wogen des Rheins ergoß.

»Er ist wahnsinnig!« rief Mütterchen aufgebracht und wollte schon den Weg zurücklaufen, doch Alberich hielt sie zurück.

»Laß ihn.« Er wunderte sich ebenso wie die anderen, doch er ahnte auch, daß die grimmige Maskerade des Ritters ein tieferes Geheimnis barg.

»Er versenkt all das schöne Gold im Rhein«, jammerte Mütterchen; es war die Räuberin, die aus ihr sprach.

Löwenzahn deutete lächelnd auf zwei Säcke, die er auf dem Rücken des Ponys befestigt hatte. »Nicht alles.«

»Aber...«, wollte Mütterchen widersprechen, doch ihr Ringen nach Worten blieb vergeblich. Der Anblick verschlug ihr schlichtweg die Sprache.

Alberich grinste verhalten und ging voraus, den Weg hinab nach Süden. »Laßt ihn in Ruhe«, sagte er noch einmal, und Geist sprang frohgemut an seine Seite. »Er ist Hagen von Tronje, und er allein kennt seine Gründe.«

Als sich auch die anderen abgewandt hatten, erschien ein Schatten auf der Wasseroberfläche und schob sich träge auf die Klippe zu, dorthin, wo das Gold versank.

Keiner von ihnen bemerkte es.

Vielleicht war es nur eine Wolke, die sich auf den Wellen spiegelte.

Epilog

Beim traditionellen Fußnägelrauchen schnitt Alberich sich in den Zeh. Ein Blutstropfen quoll hervor, und einen Moment lang verzog er gequält das Gesicht.

Soviel zur Unverwundbarkeit, dachte er schmerzlich; doch die alte Enttäuschung war längst verklungen. Bemüht, sich sein Mißgeschick nicht anmerken zu lassen, schälte er sich ein Stück vom Nagel und stopfte es in die Pfeife, die von Hand zu Hand durch den Wolfswinkel gereicht wurde. Frohes Gegröle wurde laut, als sie den letzten in der Reihe erreichte. Sodann wurde die Pfeife entzündet, und dem Bemitleidenswerten übergeben, der sich freiwillig gemeldet hatte.

Alberich wartete nicht ab, wie der Pfeifenstreit ausging. Er schob seinen Fuß zurück in den Stiefel und trat zur Tür hinaus ins Abenddunkel. Nach dem Gestank aus der glimmenden Pfeife war die kühle Nachtluft eine Wohltat. Er lehnte sich an die Hauswand, verdrängte den Lärm aus der Schänke und wandte den Blick hinauf zum Sternenhimmel. Es war eine schöne Nacht. Er fragte sich, ob Menschen sich bei diesem Anblick genauso klein wie Zwerge fühlten.

Damals hatte Geist ihm berichtet, was ihr widerfahren war, und er teilte ihre Ansichten. Der Drache war nur eine Hülle gewesen, ein Körper für das, was tatsächlich in ihm schlummerte: eine Magie, so mächtig, daß sie den Kräften der Götter nahekam. Für die Magie aber war der Drache längst zum Kerker geworden, alt und träge und von allen gehaßt, und es dürstete sie nach einem Neubeginn. So hatte sie sich Wesen herbeigerufen, deren Natur es gestattete, ihr als neue Träger zu dienen; Wesen, die ihre Macht in ein neues Zeitalter, zu neuer Blüte zu führen vermochten. Geist, das zierliche, unschuldige Moosfräulein, war eine gute Wahl gewesen, viel besser als Alberich selbst. Was hätte er auch mit solchen Kräften anfangen sollen? Er war ein Zwerg, ein Krieger, und der Hauch von Zauberei, den er selbst in sich trug, genügte ihm vollkommen. Liebe Güte, die Magie eines Drachen! Nur ein so unbeschwertes Wesen wie Geist vermochte solche Macht zu bändigen, ohne daran zu verzweifeln.

Siegfried von Xanten war nur ein winziges Glied in der Kette gewesen. Ohne es zu wissen, hatte er etwas viel Größeres in Gang gesetzt, als er den Drachen erschlug. Als Dank dafür war ihm die Panzerhaut zueigen geworden; ob sie ihm Glück oder Unglück brachte, mußte sich erst noch erweisen.

Der Geweihte schließlich hatte geglaubt, er habe die Vorgänge durchschaut. Ja, er hatte gedacht, er könne selbst Einfluß darauf nehmen. Dabei war auch er nur ein Werkzeug gewesen. Er hatte davon geträumt, den Drachen zum Leben zu erwecken und in seine Gewalt zu bringen. Wäre er nur ein wenig mutiger gewesen und selbst in den Leib des Lindwurms gestiegen, vielleicht hätte sich die Macht des Zaubers dann auf ihn übertragen. Doch als er Geist den Vortritt ließ, hatte er seinen eigenen Niedergang verursacht. Nicht der Drache war erwacht, sondern seine magische Essenz. Und nun war es Geist, die sie beherbergte.

Die Tür des Wirtshauses wurde aufgezogen. Kerzenlicht und Rauch drangen hinaus auf den Waldweg. Mütterchen trat ins Freie und hustete lautstark.

»Sag bloß, du hast es versucht?« fragte Alberich.

Sie schüttelte den Kopf und mußte abermals husten. »Ich hab’ nur ein Stück Ei im Hals.« Sie atmete tief durch, es klang wie ein Blasebalg am Kaminfeuer. »Gehen wir zurück zum Berg. Löwenzahn ist ungeduldig. Er wird noch seinen Posten am Tor verlassen, um uns zu suchen.«

»Geist wird ihn schon beruhigen. Beim letzten Mal erschien eine Rosenblüte in ihrem Gesicht, als er wütend wurde.« Alberich kicherte krächzend. »Ich glaube, unser Riese ist verliebt.«

Mütterchen rümpfte die Nase und streckte den Kopf zurück in den Schankraum. »Obbo!« brüllte sie, um den Lärm der Feier zu übertönen. »Bring uns zwei große Krüge Bier!«

Wenig später erschien der Wirt und drückte jedem einen schäumenden Humpen in die Hand. »Ihr geht schon?«

Die greise Räuberin nahm einen Schluck und nickte; dabei tauchte sie versehentlich ihr halbes Gesicht in den Schaum. Sie spuckte und schnaubte. »Wir können nicht immer soviel Glück haben wie bei der letzten Bande, die am Berg aufgetaucht ist.«

»Löwenzahns Bart wächst nicht mehr so gut wie früher«, pflichtete Alberich bei.

Obbo lächelte verständnisvoll und verschränkte die Hände über seinem Kugelbauch. Sein Blick wanderte hinauf zu den Sternen. »Schöne Nacht, was?«

»Gab schon schönere«, erwiderte Alberich mißmutig.

Mütterchen grinste. »Obbo, ich glaube, da drinnen hat jemand deinen Namen gerufen.«

Der Wirt seufzte in gespielter Schwermut. »Manchmal denke ich, das ist das einzige Wort, das sie kennen.« Damit drehte er sich um und eilte zurück in den Schankraum. Hinter ihm fiel die Tür zu.

Mütterchen und Alberich blickten auf ihre Krüge, dann zur geschlossenen Wirtshaustür. Einen Augenblick später stahlen sich beide wie auf ein geheimes Zeichen davon. Nach einigen Schritten stimmten sie das Lied vom Räuber Rohland an. Mütterchen legte eine Hand auf Alberichs Schulter, und so gingen sie und schwenkten vergnügt die gestohlenen Krüge, bis der Schatten des Berges sie verschluckte.

ENDE

Chronologie

Die Nibelungen

Die große Saga »Die Nibelungen« ist keine Nacherzählung des weltberühmten Nibelungenliedes. Jeder Roman erzählt eine neue, aufregende Geschichte um einen Helden des Epos. Gleichwohl lassen sich die Romane in die Chronologie des Liedes einordnen.

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