Endlich aber lag der Drache still. Doch immer noch war ein Hauch von Leben in ihm. Mit tiefer Stimme fragte er: ›Wer bist du, und welches ist dein Geschlecht, daß du es wagst, mir mit solcher Kühnheit entgegenzutreten?‹ Und Siegfried sprach: ›Man nennt mich Siegfried, und ich wurde den Herrschern von Xanten als einziger Sohn geboren, den Fürsten Siegmund und Sieglinde.‹ Der Drache gab sich damit nicht zufrieden: ›Was trieb dich zu diesem Kampf? Weißt du nicht, daß alles Volk mich fürchtet?‹ ›Mein Mut, meine Kraft und meine starke Rechte verlangten, sich mit dir zu messen‹, erwiderte Siegfried stolz. ›Mein Schwert Balmung tat das seine, dir all deinen Schrecken zu nehmen.‹ «
Alberich zog eine Grimasse. »Solch ein Großmaul! Nur das Schwert war es, nur Balmung, das ihn den Drachen bezwingen ließ. Das Schwert, das er aus meinem Hort gestohlen hat!«
»Balmung gehörte den Nibelungen?« fragte Löwenzahn überrascht, bekam aber keine Antwort.
Mütterchen holte Luft. »Endlich war der Drache tot. Das Feuer in seinen Augen verging, und kein Gift und keine Glut schossen mehr aus seinem Maul. Allein sein Blut, viele, viele Fässer voll, ergoß sich hinab in die Grube des Recken, und Siegfried selbst war über und über davon besudelt. Er erinnerte sich an die alte Mär vom Drachenblut, und daß es dem, der darin badet, die Unverwundbarkeit schenkt. Flugs entstieg er seiner Kleidung und sank in die rote warme Flut, benetzte sich von oben bis unten. Und bald schon spürte er, wie sich ein unsichtbarer Hornpanzer über seine Haut legte, und keine Klinge, nicht einmal Balmungs scharfe Spitze, vermochte sie zu ritzen. So zog der Xantener glücklich von dannen, in der Gewißheit, daß keiner es je mit ihm aufnehmen könnte.«
Alberich schlug vor Zorn mit der Faust gegen seinen Krug. Das Gefäß flog in weitem Bogen vom Tisch und zerbrach am Boden. »Das darf nicht wahr sein! Unverwundbar soll er sein, der Hund? Einst wird er lernen, wie unverwundbar er ist, wenn erst Alberichs Klinge ihn spaltet.«
Obbo sah finster auf die Splitter des Tonkrugs, blieb aber auf seinem Platz. Wer mochte wissen, wie viele Krüge noch zerbrechen würden, ehe der Zwerg zur Ruhe kam?
Löwenzahn runzelte unter seiner schwarzen Mähne die Stirn. »Wie aber soll diese Geschichte unserem Horthüter zugute kommen?«
»Das würde ich auch gern wissen!« keifte der Zwerg.
Mütterchen lächelte geheimnisvoll. »Fällt es euch wirklich so schwer zu begreifen?«
Erstaunlicherweise war es Obbo, der sagte: »Das Blut! Du meinst das Blut, nicht wahr?«
»Aber ja doch!« rief sogar Löwenzahn.
Nur Alberich schaute verständnislos von einem zum anderen. »Blut?« fragte er verdutzt.
»Es ist doch ganz einfach«, erklärte Mütterchen geduldig und machte dabei ihrem Namen alle Ehre. »Der Schutz der Tarnkappe ist dir verlorengegangen. Um den Hohlen Berg aber gegen die wilden Horden verteidigen zu können, die bald schon hier auftauchen werden, bedarf es einer neuen Magie.« Sie grinste. »Du, Alberich, mußt unverwundbar werden - genau wie dein Erzfeind Siegfried!«
»Unverwundbar...?« Der Zwerg schnappte nach Luft. Er sah aus, als würde er gleich ein zweites Mal zusammenbrechen.
»Natürlich!« meinte auch Löwenzahn. »Ich werde dich auf der Reise begleiten.«
»Begleiten...?« stammelte der Horthüter fassungslos. »Reise?«
»Zur Drachenheide«, sagte Mütterchen erregt. »Und auch ich will mit euch kommen. Es heißt, das Blut eines Lindwurms habe heilende Kräfte. Meine Gicht macht mir neuerdings zu schaffen.«
»Ihr meint...«, keuchte Alberich, »ihr meint wirklich... ich soll in Blut baden? In Drachenblut?«
»Warum nicht?« fragte Löwenzahn.
»Ja«, sagte auch Mütterchen, »warum eigentlich nicht?«
Alberich verzog kleinlaut das Gesicht. »Es stinkt.«
Mütterchen lächelte gutherzig. »Sicher bist du bei all den Blutbädern, die du unter deinen Feinden angerichtet hast, schon das ein oder andere Mal im Blut gewatet.«
»Natürlich, natürlich«, ereiferte sich Alberich eilig.
»Dann sehe ich keine Schwierigkeit.«
Alberich, dem der Gedanke noch immer sichtliches Unbehagen bereitete, suchte nach einem anderen Ausweg. »Ich kann den Hohlen Berg nicht unbewacht lassen.«
»Nur einige Tage«, widersprach Mütterchen. »Es kann nicht weit von hier sein. Und bis die ersten Räuber hier eintreffen, mag gut und gern noch eine Weile vergehen. Niemand wird den Hohlen Berg und den Nibelungenhort aufs Geratewohl angreifen. Das erfordert Vorbereitungen, Pläne und Ränke. Nein«, schloß sie, »ich glaube, in den nächsten Tagen ist der Hort noch sicher, auch ohne dich. Außerdem hast du selbst gesagt, daß jeder Räuber sich in den Hallen der Berges unweigerlich verirren muß.«
»Aber es ist mein Auftrag, den Schatz zu bewachen«, knurrte der Zwerg.
»Ein Auftrag, den dir zuletzt dein Feind Siegfried erteilte. Sollte es dir nicht Gefallen bereiten, dich ihm zu widersetzen?«
»Ich war schon Horthüter, als dieses Schwein noch gar nicht lebte.«
»Doch heute bist du es nach seinem Willen.«
Alberich verschränkte mürrisch die Arme. Er zog den goldbehelmten Kopf zwischen die Schultern und grummelte leise vor sich hin. »Drachenblut... der Xantener... hasse Reisen... aber die Magie«, war alles, was Mütterchen und die anderen verstehen konnten.
Löwenzahn ergriff das Wort. »Auch ich will im Blute des Untiers baden. Dann werde ich Siegfried zum Schwertkampf fordern. Wir werden sehen, wer von uns der Stärkere ist.«
»Überschätze dich nicht«, warnte Mütterchen. »Außerdem sollte es das Ziel unserer Reise sein, den Blutsee zu finden, nicht den Xantener zu jagen.«
Alle versanken in brütendem Schweigen, unterbrochen nur von Alberichs brummelndem Selbstgespräch. Dabei starrte er verkniffen auf die leere Stelle auf dem Tisch, wo eben noch sein Krug gestanden hatte.
Obbo erhob sich. »Noch ein Bier?« fragte er, denn er besann sich auf seine Pflichten als Wirt. Mütterchens Geschichte und der wagemutige Plan hatten ihn gründlich verwirrt.
»Eines für mich«, sagte Löwenzahn, und auch Mütterchen bat um einen zweiten Krug.
Alberich hielt sich zurück. Er schien das Für und Wider abzuwägen, denn sein Mienenspiel wirkte noch abweisender als sonst. Schließlich aber, als Obbo die verlangten Krüge brachte, sagte der Zwerg: »Nein!«
»Nein!« fragten Mütterchen und Löwenzahn wie aus einem Mund.
»Es geht nicht«, entgegnete Alberich. »Was, wenn all das nur Geschwätz ist? Wer weiß, ob der Xantener den Drachen wirklich besiegt hat? Mir bleibt keine Zeit, einem Hirngespinst nachzujagen.«
Mütterchen seufzte. »Es ist kein Hirngespinst, und das weißt du. Uralt sind die Geschichten vom Drachen am Rhein und älter noch die Legenden vom Bad in seinem Blut. Außerdem hast du selbst erfahren, was für ein Gegner der Xantener ist. Nur ihm allein konnte es gelingen, das Untier zu schlagen.«
»Es gibt viele Geschichten über Siegfried«, setzte er dagegen, »und nicht alle sind wahr.«
»Die meisten sind es«, erwiderte Mütterchen. »Mag er dich und die Nibelungen geschlagen haben, durch Tücke oder Kraft, so ist er doch nicht weniger Held.«
»Ein Held, pah!« spie Alberich aus. Und dann verfiel er wieder in leises Grummeln, was bedeuten mochte, daß er abermals grübelte.