Richterin Williams nickte. »Mr. Singer, Sie sind dran. Und sehen Sie zu, daß Sie dem Gericht nicht noch mehr Zeit stehlen.«
David ging zur Geschworenenbank und versuchte seine Kopfschmerzen zu vergessen. Langsam ergriff er das Wort.
»Meine Damen und Herren, Sie haben vernommen, wie die Anklage ein Krankheitsbild, das man allgemein als multiple Persönlichkeitsstörung bezeichnet, der Lächerlichkeit preisgegeben hat. Ich bin davon überzeugt, daß Mr. Brennan dabei nichts Übles im Sinn hatte. Seine Bemerkungen zeugen nur von Unwissenheit. Offensichtlich hat er keine Ahnung von multiplen Persönlichkeitsstörungen, und das gleiche gilt auch für die Zeugen, die er uns vorgeführt hat. Ich indessen werde Ihnen ein paar Zeugen präsentieren, die sich damit auskennen.
Angesehene Psychiater, die allesamt Erfahrung auf diesem Gebiet haben. Wenn Sie deren Stellungnahme hören, davon bin ich überzeugt, werden Sie die Ausführungen der Anklage in einem anderen Licht sehen.
Mr. Brennan hat die Schuld angesprochen, die meine Mandantin mit diesen drei schrecklichen Straftaten auf sich geladen habe. Womit wir bei einem wichtigen Punkt angelangt wären: der Schuldfrage. Um jemandem einen vorsätzlichen Mord nachzuweisen, genügt es nicht, ihm die Tat an sich nachzuweisen, man muß auch beweisen, daß sie in schuldhafter Absicht begangen wurde. Ich werde Ihnen beweisen, daß meine Mandantin keinerlei schuldhafte Absicht zeigte, weil sie zu dem Zeitpunkt, da diese Straftaten verübt wurden, nicht Herrin ihrer selbst war. Sie nahm nicht einmal wahr, was da vor sich ging. Einige hochangesehene Sachverständige werden bestätigen, daß Ashley Patterson an einer multiplen Persönlichkeitsstörung leidet und daß wir es mit drei Persönlichkeiten zu tun haben, darunter eine >sehr dominantec.«
David schaute die Geschworenen an, doch deren Gesichter tanzten hin und her. Er kniff kurz die Augen zusammen. »Die Amerikanische Psychiatrische Gesellschaft hat die multiple Persönlichkeitsstörung als psychische Erkrankung anerkannt. Desgleichen zahlreiche berühmte Psychiater in aller Welt, die davon betroffene Patienten behandelt haben. Eine von Ashley Pattersons Persönlichkeiten hat diese Morde begangen, aber es handelt sich um ein Alter ego, um eine andere Persönlichkeit, auf die sie keinerlei Einfluß hat.« Seine Stimme klang allmählich wieder etwas kräftiger. »Damit Sie sich über das Problem ganz klarwerden, denken Sie bitte daran, daß von Rechts wegen niemand bestraft werden darf, der unschuldig ist. Wir stehen also vor einem Paradoxon. Stellen Sie sich siamesische Zwillinge vor, die wegen Mordes vor Gericht stehen. Von Rechts wegen kann der Schuldige nicht bestraft werden, weil auch der unschuldige Teil davon betroffen wäre.«
Die Geschworenen hörten genau zu.
David deutete mit dem Kopf auf Ashley. »Und in diesem Fall haben wir es nicht nur mit zwei, sondern mit drei Persönlichkeiten zu tun.«
Er wandte sich an Richterin Williams. »Ich möchte meinen ersten Zeugen aufrufen. Dr. Joel Ashanti.«
»Dr. Ashanti, wo praktizieren Sie?«
»Am Madison Hospital in New York.«
»Sind Sie auf meine Bitte hin hergekommen?«
»Nein, ich habe aus der Zeitung von dem Fall erfahren und wollte mich dazu äußern. Ich habe mit Patienten gearbeitet, die unter multipler Persönlichkeitsstörung litten, und wollte helfen. Eine MPS kommt weitaus häufiger vor, als man gemeinhin annimmt, und ich wollte gewisse Mißverständnisse ausräumen, die es diesbezüglich gibt.«
»Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, Doktor. Kommt es bei derartigen Fällen häufiger vor, daß ein Patient gleich über zwei weitere Persönlichkeiten verfügt?«
»Ich habe die Erfahrung gemacht, daß MPS-Patienten meist weitaus mehr andere Persönlichkeiten haben, bis zu einhundert.«
Eleanor Tucker flüsterte Mickey Brennan etwas zu. Brennan lächelte.
»Seit wann beschäftigen Sie sich mit multipler Persönlichkeitsstörung, Dr. Ashanti?«
»Seit fünfzehn Jahren.«
»Und daß es bei MPS-Patienten eine Persönlichkeit gibt, die alle anderen dominiert - ist das auch typisch?«
»Ja.«
Einige Geschworene machten sich Notizen.
»Und der Betroffene, derjenige, der an dieser Störung leidet - ist er sich der anderen Persönlichkeiten bewußt?«
»Das ist ganz unterschiedlich. Mitunter wissen die anderen Persönlichkeiten voneinander, manchmal kennen sich auch nur ein paar wenige. Aber der betroffene Patient ist sich ihrer für gewöhnlich nicht bewußt, jedenfalls nicht ohne entsprechende Behandlung.«
»Das ist ja hochinteressant. Ist eine MPS heilbar?«
»Häufig ja. Allerdings bedarf es dazu einer langen, intensiven psychiatrischen Behandlung. Es kann mitunter bis zu sechs, sieben Jahre in Anspruch nehmen.«
»Haben Sie schon einmal MPS-Patienten geheilt?«
»O ja.«
»Vielen Dank, Doktor.«
David musterte einen Moment lang die Geschworenen. Aufmerksam, aber noch nicht überzeugt, dachte er.
Er warf einen Blick zu Mickey Brennan. »Ihr Zeuge.«
Brennan erhob sich und ging zum Zeugenstand. »Dr. Ashan-ti, Sie haben ausgesagt, daß Sie eigens von New York hierher geflogen sind, weil Sie helfen wollten.«
»Ganz recht.«
»Ihre Anwesenheit hat also nichts damit zu tun, daß es sich um einen aufsehenerregenden Fall handelt, der Ihnen gewisse Publicity -?«
David sprang auf. »Einspruch. Das ist eine Unterstellung.«
»Abgelehnt.«
»Ich habe erklärt, weshalb ich hier bin«, versetzte Dr. Ashan-ti ungerührt.
»Richtig. Wie viele Patienten haben Sie, seit Sie als Psychiater praktizieren, aufgrund seelischer Störungen behandelt?«
»Nun, etwa zweihundert.«
»Und wie viele davon litten unter multipler Persönlichkeitsstörung?«
»Ein Dutzend vielleicht .«
Brennan tat verwundert, als er ihn anschaute. »Von rund zweihundert Patienten?«
»Nun ja. Wissen Sie -« »Mir will nicht recht einleuchten, Dr. Ashanti, mit welchem Recht Sie sich als Sachverständiger bezeichnen, wenn Sie nur mit ein paar wenigen Fällen zu tun hatten. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie uns einen handfesten Beweis dafür vorlegen könnten, daß es so etwas wie multiple Persönlichkeitsstörung tatsächlich gibt.«
»Wenn Sie von Beweisen sprechen -«
»Wir befinden uns hier vor Gericht, Doktor. Die Geschworenen können ihre Entscheidungen nicht aufgrund grauer Theorien und Behauptungen fällen. Apropos Behauptungen. Könnte es nicht sein, daß die Angeklagte die Männer, die sie ermordete, schlicht und einfach gehaßt hat, und hinterher auf die Idee verfiel, ein Alter ego vorzuschieben, damit man sie -?«
David sprang auf. »Einspruch! Das ist sowohl eine Unterstellung als auch eine Suggestivfrage.«
»Abgelehnt.«
»Euer Ehren -«
»Setzen Sie sich, Mr. Singer.«
David warf Richterin Williams einen wütenden Blick zu und nahm wieder Platz.
»Sie sagen also, Doktor, daß es keinerlei Beweise dafür gibt, ob jemand an einer multiplen Persönlichkeitsstörung leidet oder nicht?«
»Äh, nein. Aber -«
Brennan nickte. »Mehr wollte ich gar nicht wissen.«
Dr. Royce Salem trat in den Zeugenstand.
»Dr. Salem«, sagte David. »Sie haben Ashley Patterson untersucht?«
»Jawohl.«
»Und was haben Sie dabei festgestellt?«
»Daß Miss Patterson eindeutig an MPS leidet. Sie hat zwei andere Persönlichkeiten, die sich Toni Prescott und Alette Peters nennen.« »Hat sie Einfluß auf die beiden?«
»Nein. Wenn sie die Oberhand erringen, versinkt sie in eine Art Amnesie.«
»Würden Sie das bitte genauer erklären, Doktor Salem?«