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Ein gewisser Hans aus Holland meldete sich.

»Erzähl mir was von dir, Hans.«

»Ich bin D. J. in Amsterdam. Ich steh’ auf Hip Hop, Rave und Weltmusik. Was es halt so gibt.«

»Klingt gut«, tippte Toni ein. »Ich tanze für mein Leben gern. Am liebsten die ganze Nacht. Ich lebe in einer gräßlichen Kleinstadt, in der außer ein paar Discos nichts geboten ist.«

»Klingt ziemlich öde.«

»Genau das ist es auch.«

»Vielleicht kann ich dich ein bißchen aufheitern. Können wir uns nicht irgendwo treffen?«

»Tschüs.« Sie klinkte sich aus.

Dann war da Paul, aus Südafrika.

»Ich habe schon gewartet, daß du dich wieder meldest, Toni.«

»Bin schon da. Ich würde wahnsinnig gern was über dich erfahren, Paul.«

»Ich bin zweiunddreißig. Ich bin Arzt in einem Krankenhaus in Johannesburg. Ich -«

Aufgebracht klinkte sie aus. Ein Arzt!

Schreckliche Erinnerungen überfluteten sie. Sie schloß einen Moment lang die Augen, atmete ein paarmal tief durch, bis ihr Herz wieder ruhiger schlug. Das reicht für heute abend, dachte sie, als sie mit zitternder Hand den Computer abstellte. Sie ging ins Bett.

Am folgenden Abend schaltete sich Toni wieder ins Internet ein. Scan aus Dublin meldete sich.

»Toni ... Das ist ein hübscher Name.«

»Besten Dank, Sean.«

»Warst du schon mal in Irland?«

»Nein.«

»Du würdest bestimmt drauf abfahren. Es ist das Land der Feen und Kobolde. Verrat mir, wie du aussiehst, Toni. Du bist bestimmt wunderschön.«

»Ganz recht. Ich bin wunderschön, ich bin atemberaubend, und ich bin ledig. Was bist du von Beruf, Sean?«

»Ich bin Barkeeper. Ich -«

Toni beendete das Gespräch.

Jede Nacht gab es etwas Neues. Einen Polospieler aus Argentinien zum Beispiel, einen Autohändler aus Japan, einen Herrenkonfektionsverkäufer aus Chicago, einen Fernsehtechniker aus New York. Das Internet war ein faszinierendes neues Spiel, und Toni kostete es in vollen Zügen aus. Sie konnte so weit gehen, wie sie es wollte, und sich trotzdem sicher fühlen, weil sie völlig anonym war.

Und dann, als sie sich eines Nachts in den Chat-Raum einklinkte, lernte sie Jean Claude Parent kennen.

»Bon soir. Freut mich sehr, dich kennenzulernen, Toni.«

»Ganz meinerseits, Jean Claude. Wo steckst du?«

»In Quebec.«

»Ich war noch nie in Quebec. Meinst du, es würde mir dort gefallen?« Toni rechnete damit, daß auf dem Bildschirm ein Ja auftauchen würde.

»Ich weiß nicht recht«, meldete sich Jean Claude statt dessen. »Kommt drauf an, was für ein Mensch du bist.«

Toni fand die Antwort faszinierend. »Wirklich? Was für ein Mensch müßte ich denn sein, damit mir Quebec gefällt?«

»Quebec ist so, wie man sich den alten amerikanischen Westen vorstellt. Bloß auf französisch. Die Menschen hier wollen ihre eigenen Wege gehen. Wir lassen uns nicht gern von anderen etwas vorschreiben.«

»Ich auch nicht«, gab Toni ein.

»Dann würde es dir hier gefallen. Es ist eine herrliche Stadt. Inmitten von Bergen und Seen gelegen. Ein Paradies für jeden Angler und Jäger.«

Toni schaute wie gebannt auf den Bildschirm. Sie spürte geradezu die Begeisterung, die in Jean Claudes Worten mitschwang. »Klingt ja super. Erzähl mir was von dir.«

»Moi? Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Ich bin achtunddreißig, ledig. Ich habe gerade eine Beziehung hinter mir und möchte endlich die richtige Frau kennenlernen. Et toi? Bist du verheiratet?«

»Nein«, tippte Toni ein. »Ich bin ebenfalls auf der Suche nach jemandem. Was machst du beruflich?«

»Ich besitze ein kleines Juweliergeschäft. Ich hoffe, daß du eines Tages vorbeikommst und mich besuchst.«

»Ist das eine Einladung?«

»Mais oui. Ja.«

»Klingt interessant«, gab Toni ein. Und sie meinte es ernst. Vielleicht komme ich ja irgendwie dorthin, dachte Toni. Vielleicht kann er mich ja retten.

Toni plauschte fast jeden Abend mit Jean Claude. Er überspielte ihr per Scanner ein Foto von sich, und Toni fand, daß er sehr attraktiv und intelligent wirkte.

Als Jean Claude das Foto sah, das Toni ihm per Scanner übermittelt hatte, schrieb er: »Du bist wunderschön, ma cherie. Aber das wußte ich ja. Komm mich bitte besuchen.«

»Wird gemacht.«

»Bald.«

»Tschüs.« Toni klinkte sich aus.

Am nächsten Morgen hörte Toni in der Firma, wie sich Shane Miller mit Ashley Patterson unterhielt. Was, zum Teufel, findet er an ihr? dachte sie. Das ist doch ‘ne richtige Zicke. Für Toni war Ashley eine verklemmte alte Jungfer, die typische Unschuld vom Lande. Die hat doch keinen blassen Schimmer davon, was Spaß macht, dachte Toni. Toni konnte sie einfach nicht ausstehen. Ashley war eine Transuse, die abends am liebsten zu Hause blieb, ein Buch las oder sich irgendwelchen historischen Kram oder Nachrichten anguckte. Sie hatte keinerlei Interesse an Sport. Wie langweilig! Sie hatte sich noch nie in einen Chat-Raum eingeklinkt. Nie und nimmer würde Ashley wildfremde Menschen über Computer kennenlernen wollen. Kalt wie ein Fisch, dachte Toni. Die weiß ja gar nicht, was sie sich entgehen läßt. Ohne Internet und Chat-Raum hätte ich Jean Claude niemals kennengelernt.

Toni mußte an ihre Mutter denken, die das Internet vermutlich von ganzem Herzen gehaßt hätte. Aber ihre Mutter hatte so gut wie alles gehaßt. Sie konnte sich nur auf zweierlei Art ausdrücken - entweder schrie sie, oder sie jammerte. Toni konnte ihr nie etwas recht machen. Du dummes Gör, kannst du denn gar nichts? Ja, ihre Mutter hatte sie einmal zu oft angebrüllt. Toni mußte an den schrecklichen Unfall denken, bei dem ihre Mutter ums Leben gekommen war. Sie konnte immer noch ihre Hilfeschreie hören. Beim Gedanken daran mußte sie lächeln.

»Will ich in mein Küchel gehen, will mein Süpplein kochen, steht ein bucklicht Männlein da, hat mein Töpflein brochen.«

3

An einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit wäre Alette Peters vermutlich eine erfolgreiche Künstlerin gewesen. Solange sie zurückdenken konnte, hatte sie sämtliche Sinneseindrücke als Farbtöne wahrgenommen. Sie sah Farben nicht nur, sie konnte sie auch riechen und hören.

Die Stimme ihres Vaters war blau, manchmal auch rot.

Die Stimme ihrer Mutter war dunkelbraun.

Die Stimme ihres Lehrers war gelb.

Die Stimme des Lebensmittelhändlers war violett.

Das Rauschen des Windes in den Bäumen war grün.

Fließendes Wasser klang grau.

Alette Peters war zwanzig Jahre alt. Sie konnte unscheinbar wirken, aber auch attraktiv oder hinreißend schön, je nachdem, wie sie gelaunt war oder sich selbst empfand. Aber einfach hübsch sein, das konnte sie nicht. Ihre Anziehungskraft war auch darauf zurückzuführen, daß sie sich ihres Aussehens überhaupt nicht bewußt war. Sie war schüchtern, hatte eine leise Stimme und wirkte so sanftmütig, als stammte sie aus einer anderen Zeit.

Alette Peters war in Rom geboren, und sie sprach mit einem melodiösen italienischen Akzent. Sie liebte Rom von ganzem Herzen. Sie hatte hoch oben auf der Spanischen Treppe gestanden, über die ganze Stadt hinweggeblickt und gespürt, daß all das ihr gehörte. Wenn sie die alten Tempel und das riesige Kolosseum betrachtete, wußte sie, daß sie eigentlich zu jenen Zeiten hätte leben sollen. Sie war über die Piazza Navona spaziert, hatte dem Singsang des Wassers in dem großen Brunnen mit den allegorischen Darstellungen der vier Flüsse gelauscht und war dann die Piazza Venezia hinuntergegangen, wo das wie eine riesige Hochzeitstorte wirkende Monument zu Ehren von König Viktor Emmanuel II. stand. Sie hatte sich stundenlang in der Peterskirche herumgetrieben, in den vatikanischen Museen und der Villa Borghese, hatte die zeitlos schönen Kunstwerke eines Raffael und Fra Bartolommeo, Andrea del Sarto und Pontormo bestaunt. Deren Können faszinierte sie, zugleich frustrierte es sie aber auch. Sie wünschte, sie wäre im 16. Jahrhundert zur Welt gekommen und hätte sie persönlich kennengelernt. Alette kamen sie vertrauter vor als die Passanten draußen auf der Straße. Sie wollte unbedingt Künstlerin sein.