»Verdammt, du hast da hinten eine Kamera aufgestellt«, kreischte Toni. Sie drehte sich zu David um. »Du Dreckskerl, du hast wohl gedacht, du kannst mich austricksen?«
Toni ergriff den Brieföffner, der auf dem Schreibtisch lag, und stürzte sich auf David. »Ich bring’ dich um«, schrie sie. »Ich bring’ dich um.«
David versuchte sie festzuhalten, aber er kam nicht gegen sie an. Der Brieföffner bohrte sich in seine Hand.
Toni riß den Arm hoch und wollte erneut zustechen, worauf der Wärter zu ihr rannte und sie zu ergreifen versuchte. Toni stieß ihn zu Boden. Die Tür ging auf, und ein Wachmann in Uniform kam hereingerannt. Als er sah, was da vor sich ging, stürzte er sich auf Toni. Sie trat ihm in den Unterleib, und er ging zu Boden. Zwei weitere Wachmänner kamen hinzu, und erst mit vereinten Kräften gelang es ihnen, Toni, die die ganze Zeit über brüllte und auf sie einschrie, auf den Stuhl zu drücken und festzuhalten.
Blut tropfte aus Davids Wunde. Er sagte zu Dr. Salem: »Um Himmels willen, wecken Sie sie auf!«
»Ashley!« sagte Dr. Salem, »Ashley - hören Sie mir zu. Sie werden jetzt wieder zu sich kommen. Toni ist weg. Sie können ruhig wieder zu sich kommen, Ashley. Ich zähle jetzt bis drei.«
Sie sahen gespannt zu, wie Ashley wieder ruhig und gelöst wurde.
»Können Sie mich hören?«
»Ja.« Es war Ashleys Stimme, aber sie klang, als käme sie aus weiter Ferne.
»Wenn ich bis drei gezählt habe, werden Sie aufwachen. Eins ... zwei ... drei ... Wie fühlen Sie sich?«
Sie schlug die Augen auf. »Ich bin so müde. Habe ich irgendwas gesagt?«
Die Leinwand in Richterin Williams Dienstzimmer wurde dunkel. David ging zur Tür und schaltete das Licht ein.
»Nun denn!« sagte Brennan. »Was für ein Auftritt. Wenn es einen Oscar für die beste -«
Richterin Williams wandte sich ihm zu. »Halten Sie den Mund.«
Brennan schaute sie schockiert an.
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann wandte sich Richterin Williams an David. »Herr Rechtsanwalt.«
»Ja?«
Sie zögerte kurz. »Ich möchte mich entschuldigen.«
»Beide Parteien«, sagte Richterin Williams, als sie im Gerichtssaal Platz genommen hatte, »sind übereingekommen, sich der Meinung des Psychiaters anzuschließen, der die Angeklagte bereits untersucht hat, Dr. Salem. Das Gericht beschließt, daß die Angeklagte aufgrund einer Geisteskrankheit nicht schuldig ist. Sie wird in einer Anstalt untergebracht, wo man sie behandeln kann. Die Sitzung ist geschlossen.«
Erschöpft und ausgelaugt stand David auf. Es ist vorbei, dachte er. Endlich ist es vorbei. Jetzt konnten er und Sarah sich wieder ihrem Leben widmen.
Er blickte zu Richterin Williams. »Wir bekommen ein Kind«, sagte er glücklich.
»Ich möchte Ihnen etwas vorschlagen«, sagte Dr. Salem zu David. »Ich weiß nicht, ob es möglich ist, aber ich glaube, es würde Ashley sehr helfen, wenn Sie es einrichten könnten.«
»Worum geht es?«
»Im Connecticut Psychiatrie Hospital drüben an der Ostküste hat man mehr MPS-Fälle behandelt als in jeder anderen Anstalt im ganzen Land. Dr. Otto Lewison, ein Freund von mir, ist der Leiter. Wenn Sie vor Gericht durchsetzen könnten, daß man Ashley dorthin bringt, wäre das meiner Meinung nach sehr gut.«
»Danke«, sagte David. »Ich will sehen, was ich tun kann.«
»Ich - ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sagte Dr. Steven Patterson zu David.
David lächelte. »Keine Ursache. Eine Hand wäscht die andere. Wissen Sie noch?«
»Sie haben Ihre Sache hervorragend gemacht. Eine Zeitlang hatte ich Angst -«
»Ich auch.«
»Aber die Gerechtigkeit hat gesiegt. Meine Tochter wird wieder geheilt werden.«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte David. »Dr. Salem hat übrigens eine psychiatrische Klinik in Connecticut vorgeschlagen. Die Ärzte dort haben Erfahrung im Umgang mit MPS.«
Dr. Patterson schwieg einen Moment. »Wissen Sie, Ashley hat das alles nicht verdient. Sie ist so ein wunderbarer Mensch.«
»Ganz meine Meinung. Ich rede mit Richterin Williams und sehe zu, daß man sie verlegt.«
Richterin Williams saß in ihrem Dienstzimmer. »Was kann ich für Sie tun, Mr. Singer?«
»Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.«
Sie lächelte. »Ich hoffe, ich kann ihn erfüllen. Worum geht es?«
David erklärte der Richterin, was Dr. Salem ihm mitgeteilt hatte.
»Nun ja, das ist eine ziemlich ungewöhnliche Bitte. Hier bei uns in Kalifornien gibt es ebenfalls einige ausgezeichnete psychiatrische Anstalten.«
»Na gut«, sagte David. »Vielen Dank, Euer Ehren.« Enttäuscht wandte er sich zum Gehen.
»Ich habe nicht nein gesagt, Mr. Singer.« David blieb stehen. »Es ist ein ungewöhnliches Ersuchen, aber schließlich handelt es sich auch um einen ungewöhnlichen Fall.«
David wartete.
»Ich glaube, ich kann veranlassen, daß man sie verlegt.«
»Vielen Dank, Euer Ehren. Ich weiß das zu schätzen.«
Man hat mich zum Tode verurteilt, dachte Ashley unterdessen in ihrer Zelle. Zu einem langsamen Tod in einer Anstalt voller Irrer. Es wäre gnädiger gewesen, wenn man mich gleich getötet hätte. Sie dachte an die langen, trostlosen Jahre, die vor ihr lagen, und begann zu weinen.
Die Zellentür wurde aufgeschlossen, und ihr Vater kam herein. Er stand einen Moment lang da und schaute sie mit schmerzerfüllter Miene an.
»Mein Schatz ...« Er setzte sich ihr gegenüber. »Du wirst leben«, sagte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich will nicht mehr leben.«
»So was darfst du nicht sagen. Du leidest an einer Krankheit, aber sie läßt sich heilen. Und das wird auch geschehen. Wenn es dir wieder bessergeht, kannst du bei mir wohnen, und ich werde für dich sorgen. Egal, was geschieht, wir werden immer füreinander dasein. Das kann uns keiner nehmen.«
Ashley saß wortlos da.
»Ich weiß, wie dir im Augenblick zumute ist, aber das wird sich ändern. Mein Mädchen wird wieder zu mir nach Hause kommen, und zwar gesund.« Er erhob sich langsam. »Ich muß leider zurück nach San Francisco.« Er wartete darauf, daß Ashley etwas sagte.
Sie schwieg.
»David hat mit mir gesprochen. Er glaubt, daß man dich in einer der besten psychiatrischen Kliniken der Welt unterbringen wird. Ich komme dann vorbei und besuche dich. Möchtest du das?«
Sie nickte teilnahmslos. »Ja.«
»Na schön, mein Schatz.« Er küßte sie auf die Wange und schloß sie in die Arme. »Ich werde dafür sorgen, daß alles Menschenmögliche für dich getan wird. Ich möchte mein kleines Mädchen wiederhaben.«
Ashley blickte ihrem Vater hinterher. Wieso kann ich nicht auf der Stelle sterben? dachte sie. Wieso läßt man mich nicht sterben?
Eine Stunde später kam David sie besuchen.
»Tja, wir haben es geschafft«, sagte er. Er musterte sie besorgt. »Ist alles in Ordnung?«
»Ich möchte nicht in eine Irrenanstalt. Ich will sterben. Ich halte so ein Leben nicht aus. Helfen Sie mir, David. Bitte helfen Sie mir.«
»Ashley, man wird Ihnen dort helfen. Was bisher war, zählt nicht mehr. Sie haben ein neues Leben vor sich. Der Alptraum wird bald vorüber sein.« Er ergriff ihre Hand. »Schauen Sie -Sie haben mir bislang vertraut. Vertrauen Sie mir weiter. Sie werden wieder ein völlig normales Leben führen können.« Sie saß schweigend da.
»Sprechen Sie mir nach. >Ich glaube Ihnen, David.c« Sie atmete tief durch. »Ich - ich glaube Ihnen, David.«
Er grinste. »Braves Mädchen. Damit ist schon ein erster Anfang gemacht.«