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Alle schauten Ashley an.

Danach wurde sie nicht mehr belästigt.

Die Maschine legte unterwegs zwei Zwischenlandungen ein, bei denen etliche Insassen weggebracht wurden und neue hinzukamen. Es war ein langer Flug, unterwegs gerieten sie in heftige Turbulenzen, und als sie endlich auf dem La Guardia Airport in New York landeten, war Ashley luftkrank.

Zwei Polizisten in Uniform nahmen sie, kaum daß die Maschine ausgerollt war, auf dem Vorfeld in Empfang. Sie schlossen ihre Fußfesseln auf, brachten sie zu einem Polizeibus und legten sie erneut in Eisen. Etwas derart Demütigendes war ihr in ihrem ganzen Leben noch nicht widerfahren. Daß sie selbst sich völlig normal vorkam, machte die Sache nur noch schlimmer. Meinten die etwa, sie wollte flüchten und wieder jemanden umbringen? Das war doch vorbei, ausgestanden. Wußten die das etwa nicht? Sie war fest davon überzeugt, daß so etwas nie mehr vorkommen würde. Sie wollte hier nur noch raus. Egal wohin.

Irgendwann döste sie auf der langen, eintönigen Fahrt nach Connecticut ein. Eine schroffe Polizistenstimme weckte sie auf.

»Wir sind da.« Sie standen an der Pforte des Connecticut Psychiatric Hospitals.

Als Ashley in Dr. Lewisons Büro gebracht wurde, begrüßte dieser sie: »Herzlich willkommen in unserer Klinik, Miss Patterson.«

Ashley stand schweigend und mit fahlem Gesicht da.

Dr. Lewison stellte sie einander vor und rückte ihr einen Stuhl zurecht. »Nehmen Sie bitte Platz.« Er warf dem Aufseher einen kurzen Blick zu. »Nehmen Sie ihr die Handschellen und die Fußeisen ab.«

Die Fesseln wurden aufgeschlossen, und Ashley nahm Platz.

»Ich weiß, daß das sehr schwierig für Sie sein muß«, sagte Dr. Foster. »Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um es Ihnen so leicht wie möglich zu machen. Unser Ziel ist es, dafür zu sorgen, daß Sie dieses Haus eines Tages geheilt verlassen können.«

Ashley gab zum erstenmal einen Ton von sich. »Wie - wie lange dauert das?«

»Das läßt sich so früh noch nicht sagen«, erwiderte Otto Lewison. »Vielleicht fünf bis sechs Jahre, falls Sie geheilt werden können.«

Jedes einzelne Wort traf Ashley wie ein Blitzschlag. Vielleichtfünf bis sechs Jahre, falls Sie geheilt werden können ...

»Wir werden eine sanfte Therapie anwenden. Sie wird aus einer Reihe von Sitzungen mit Dr. Keller bestehen, der mehrere Therapiemethoden anwenden wird - Hypnose, Gruppentherapie, Maltherapie. Vor allem aber, und das ist wichtig, müssen Sie immer daran denken, daß wir auf Ihrer Seite stehen.«

Gilbert Keller musterte ihr Gesicht. »Wir haben uns vorgenommen, Ihnen zu helfen, und wir möchten, daß auch Sie uns dabei helfen.«

Dazu gab es nichts mehr zu sagen.

Otto Lewison nickte dem Aufseher zu, worauf dieser zu Ashley ging und sie am Arm nahm.

»Man wird Sie jetzt in Ihre Unterkunft bringen«, sagte Craig Poster. »Wir reden später wieder miteinander.«

Als Ashley das Zimmer verlassen hatte, wandte sich Otto Lewison an Gilbert Keller. »Was halten Sie davon?«

»Tja, einen Vorteil hat die Sache. Wir haben es nur mit zwei anderen Persönlichkeiten zu tun.«

Keller dachte nach. »Wieviel hatten wir bei dem bisher schlimmsten Fall?«

»Insgesamt neunzig - bei der Beltrand.«

Ashley hatte nicht gewußt, was sie erwartete, aber irgendwie hatte sie sich einen düsteren, trostlosen Kerker vorgestellt. Das Connecticut Psychiatric Hospital hingegen wirkte eher wie ein gemütlicher Club - allerdings mit vergitterten Fenstern.

Als der Pfleger Ashley durch die langen, hellen Korridore geleitete, sah sie zahlreiche Insassen, die sich offenbar frei bewegen konnten. Es waren Menschen jeden Alters, und alle wirkten völlig normal. Wieso sind die hier? Einige lächelten sie an und wünschten ihr einen guten Morgen, doch Ashley war zu verwirrt, als daß sie hätte antworten können. Alles kam ihr so unwirklich vor. Sie war in einer Irrenanstalt. Bin ich irre?

Dann kamen sie zu einer schweren Stahltür, die einen Teil des Gebäudes abriegelte. Dort wartete ein weiterer Pfleger. Er drückte auf einen roten Knopf, worauf die mächtige Tür aufging.

»Das ist Ashley Patterson.«

»Guten Morgen, Miss Patterson«, sagte der andere Pfleger. Sie taten so, als wäre das alles ganz normal. Aber nichts ist mehr normal, dachte Ashley. Die ganze Welt ist zusammengebrochen.

»Hier entlang, Miss Patterson.« Der Pfleger brachte sie zu einer weiteren Tür und öffnete sie. Ashley trat ein und blickte sich um. Sie befand sich nicht etwa in einer Zelle, sondern in einem freundlichen, mittelgroßen Zimmer mit pastellblauen Wänden, einer kleinen Couch und einem bequem aussehenden Bett.

»Hier werden Sie wohnen. In ein paar Minuten bringt man Ihnen Ihre Sachen.«

Ashley blickte dem Pfleger nach, als er wegging und die Tür schloß. Hier werden Sie wohnen.

Sie spürte, wie sie Platzangst bekam. Was ist, wenn ich nicht hier wohnen möchte? Was ist, wenn ich raus will?

Sie ging zur Tür. Sie war verschlossen. Ashley setzte sich auf die Couch und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Sie versuchte sich auf etwas Angenehmes zu konzentrieren. Wir werden versuchen, Sie zu heilen.

Wir werden versuchen, Sie zu heilen.

Wir werden Sie heilen.

23

Dr. Gilbert Keller war für Ashleys Therapie zuständig. Sein Spezialgebiet war die Behandlung multipler Persönlichkeitsstörungen, und obwohl es gelegentlich Fehlschläge gegeben hatte, konnte er eine hohe Erfolgsquote vorweisen. Bei derartigen Fällen gab es keine raschen Fortschritte. Zunächst mußte er das Vertrauen des Patienten gewinnen, damit er sich in seiner Gegenwart wohl fühlte, dann nach und nach die anderen Persönlichkeiten herauslocken, so daß sie miteinander Kontakt aufnehmen und verstehen konnten, weshalb sie überhaupt da waren, und schließlich einsahen, weshalb sie nicht mehr benötigt wurden. Das war der Augenblick der Heilung, der Moment, in dem die verschiedenen Persönlichkeitsebenen wieder zu einer Einheit verschmolzen.

Aber bis dahin ist es ein weiter Weg, dachte Dr. Keller.

Am nächsten Morgen ließ Dr. Keller Ashley in sein Büro bringen. »Guten Morgen, Ashley.«

»Guten Morgen, Dr. Keller.«

»Ich möchte, daß Sie mich Gilbert nennen. Wir werden gute Freunde werden. Wie fühlen Sie sich?«

Sie schaute ihn an. »Man hat mir gesagt, daß ich fünf Männer ermordet habe. Wie soll ich mich da wohl fühlen?«

»Können Sie sich an irgendeinen Mord erinnern?«

»Nein.«

»Ich habe das Protokoll der Gerichtsverhandlung gelesen, Ashley. Sie haben niemanden ermordet. Das war eine Ihrer anderen Persönlichkeiten. Wir werden uns mit Ihren anderen Persönlichkeiten vertraut machen, und im Laufe der Zeit, und mit Ihrer Hilfe, werden wir dafür sorgen, daß sie verschwinden.«

»Ich - ich hoffe, Sie können -«

»Ich kann. Ich bin dazu da, Ihnen zu helfen, und genau das habe ich auch vor. Ihr Unterbewußtsein hat diese anderen Persönlichkeiten geschaffen, um Sie vor unerträglichem Leid zu schützen. Wir müssen herausfinden, was dieses Leid verursacht hat. Dazu muß ich erfahren, wann diese anderen Persönlichkeiten entstanden sind und warum.«

»Wie - wie wollen Sie das schaffen?«

»Wir werden miteinander reden. Dabei wird Ihnen allerlei einfallen. Von Zeit zu Zeit werden wir auch Hypnose oder Natriumamytal anwenden. Sie sind doch bereits hypnotisiert worden, nicht wahr?«

»Ja.«

»Niemand wird Sie drängen. Wir werden uns viel Zeit lassen. Und wenn wir fertig sind«, fügte er beruhigend hinzu, »werden Sie wieder gesund werden.«