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Sie stand auf und ging auf der Suche nach einem scharfen Gegenstand in ihrem Zimmer auf und ab. Sie fand nichts. Bei der Ausstattung des Zimmers hatte man wohlweislich darauf geachtet, daß es keinerlei gefährliche Gegenstände gab, mit denen sich die Patienten verletzen konnten.

Verzweifelt blickte sie sich um. Dann sah sie die Farben, die Leinwand und die Pinsel. Die Pinselstiele waren aus Holz. Ashley nahm einen, brach ihn durch und betrachtete die scharfen, ausgesplitterten Zacken. Langsam drückte sie ihn auf ihr Handgelenk und stieß dann mit aller Kraft zu in die Pulsader, bis das Blut herausschoß. Anschließend setzte sie den Pinselstiel an ihrem anderen Handgelenk an und wiederholte das Ganze. Sie stand da und sah zu, wie sich ihr Blut auf den Teppichboden ergoß. Sie fröstelte, ließ sich zu Boden sinken und rollte sich ein wie ein Embryo im Mutterleib.

Dann wurde ihr schwarz vor Augen.

Dr. Gilbert Keller war außer sich, als er davon erfuhr. Er suchte Ashley in der Krankenstation auf. Sie trug dicke Verbände an beiden Handgelenken. Er sah sie da liegen und betrachtete sie. Dazu darf es nie wieder kommen, dachte er.

»Wir hätten Sie beinahe verloren«, sagte er. »Da hätte ich aber ziemlich dumm dagestanden.«

Ashley rang sich ein Lächeln ab. »Tut mir leid. Aber mir kam alles so - so aussichtslos vor.«

»Da täuschen Sie sich«, versicherte ihr Dr. Keller. »Möchten Sie, daß man Ihnen hilft, Ashley?«

»Ja.«

»Dann müssen Sie an mich glauben. Sie müssen mitarbeiten. Allein schaffe ich das nicht. Was meinen Sie dazu?«

Sie schwieg eine ganze Weile. »Was muß ich dazu tun?« »Zunächst müssen Sie mir versprechen, daß Sie sich niemals etwas zuleide tun werden.«

»Na schön. Ich verspreche es.«

»Ich möchte, daß mir auch Toni und Alette das versprechen. Daher werde ich Sie jetzt unter Hypnose setzen.«

Ein paar Minuten später sprach Dr. Keller mit Toni.

»Diese selbstsüchtige Zicke hat versucht, uns umzubringen.

Sie denkt nur an sich. Siehst du das nicht ein?«

»Toni -«

»Also, ich laß mir das jedenfalls nicht bieten. Ich -«

»Würden Sie einen Moment still sein und mir zuhören?«

»Ich höre.«

»Sie müssen mir versprechen, daß Sie Ashley nichts zuleide tun.«

»Wieso sollte ich so was versprechen?«

»Das will ich Ihnen sagen: Weil Sie ein Teil von ihr sind. Sie sind eine Ausgeburt ihres Leids. Ich weiß noch nicht, was Sie durchmachen mußten, Toni, aber ich weiß, daß es etwas ganz Schreckliches gewesen sein muß. Aber Sie müssen sich darüber im klaren sein, daß auch sie das durchlitten hat und daß Alette aus demselben Grund geboren wurde wie Sie. Ihr drei habt viel gemein. Ihr solltet euch lieber gegenseitig helfen, statt euch gegenseitig zu bekämpfen. Geben Sie mir Ihr Wort darauf?«

Keine Reaktion.

»Toni?«

»Von mir aus«, versetzte sie unwillig.

»Vielen Dank. Möchten Sie jetzt mit mir über England sprechen?«

»Nein.«

»Alette. Sind Sie das?«

»Ja.« Was denkst du denn, du Blödmann?

»Ich möchte, daß Sie mir das gleiche versprechen wie Toni. Daß Sie Ashley niemals etwas zuleide tun werden.«

Dir geht’s wohl bloß um sie, was? Ashley, Ashley, Ashley. Und was ist mit uns?

»Alette?«

»Ja. Ich verspreche es.«

Die Monate verstrichen, ohne daß auch nur der geringste Fortschritt zu erkennen war. Dr. Keller saß an seinem Schreibtisch, ging seine Aufzeichnungen durch, ließ all die Sitzungen Revue passieren und versuchte herauszufinden, woran es liegen mochte. Er betreute ein halbes Dutzend weiterer Patienten, mußte aber feststellen, daß ihn keiner so sehr beschäftigte wie Ashley. Da war diese unglaubliche Kluft in ihrem Wesen -einerseits unschuldig und verletzlich, andererseits von finsteren Mächten besessen, die jederzeit die Oberhand gewinnen konnten. Jedesmal wenn er mit Ashley sprach, überkam ihn ein geradezu übermächtiges Bedürfnis, sie zu beschützen. Als wäre sie meine Tochter, dachte er. Ach, was soll der Quatsch? Ich bin dabei, mich in sie zu verlieben.

Dr. Keller sprach bei Otto Lewison vor. »Ich habe ein Problem, Otto.«

»Ich dachte, das wäre unseren Patienten vorbehalten.«

»Es geht auch um eine unserer Patientinnen. Ashley Patterson.«

»Aha?«

»Ich habe festgestellt, daß ich - daß ich mich zu ihr hingezogen fühle.«

»Eine Gegenübertragung etwa?«

»Ja.«

»Das könnte für Sie beide sehr gefährlich werden, Gilbert.«

»Ich weiß.«

»Nun, solange Sie sich dessen bewußt sind ... Seien Sie vorsichtig.«

»Das habe ich vor.«

November:

Heute morgen habe ich Ashley ein Tagebuch gegeben.

»Ich möchte, daß Sie, Toni und Alette das führen, Ashley. Sie können es in Ihrem Zimmer aufbewahren. Wenn Ihnen irgend etwas einfällt, was Sie lieber schriftlich festhalten wollen, statt mit mir darüber zu reden, dann notieren Sie es einfach.«

»In Ordnung, Gilbert.«

Einen Monat später notierte Dr. Keller in sein Tagebuch:

Dezember:

Die Behandlung ist an einem toten Punkt angelangt. Toni und Alette weigern sich, über die Vergangenheit zu sprechen. Außerdem wird es zusehends schwieriger, Ashley dazu zu überreden, daß sie sich einer Hypnose unterzieht.

März:

Das Tagebuch ist immer noch leer. Ich bin mir nicht sicher, wer mehr Widerstand leistet, Ashley oder Toni. Wenn ich Ashley hypnotisiere, kommen Toni und Alette für kurze Zeit zum Vorschein. Sie weigern sich beharrlich, über die Vergangenheit zu sprechen.

Juni:

Ich spreche regelmäßig mit Ashley, aber ich habe das Gefühl, daß es keinerlei Fortschritt zu verzeichnen gibt. Das Tagebuch ist nach wie vor unberührt. Ich habe Alette eine Staffelei und Farben besorgt. Ich erhoffe mir einen Durchbruch, wenn sie anfängt zu malen.

Juli:

Irgend etwas ist geschehen, aber ich bin mir nicht sicher, ob es ein Anzeichen für einen Fortschritt ist. Alette hat ein wunderschönes Bild vom Klinikgelände gemalt. Sie schien sich zu freuen, als ich sie dazu beglückwünschte. An diesem Abend war das Bild zerfetzt.

Dr. Keller und Otto Lewison tranken zusammen Kaffee.

»Ich glaube, ich versuche es einmal mit Gruppentherapie«, sagte Dr. Keller. »Alles andere scheint nicht anzusprechen.«

»Wie viele andere Patienten wollen Sie hinzuziehen?«

»Allenfalls ein halbes Dutzend. Ich möchte, daß sie allmählich mit anderen Menschen interagiert. Derzeit lebt sie in ihrer eigenen Welt. Ich möchte sie da herausholen.«

Dr. Keller führte Ashley in das kleine Sitzungszimmer, in dem bereits eine Handvoll anderer Leute saßen.

»Ich möchte Sie mit ein paar Freunden bekannt machen«, sagte Dr. Keller.

Er führte Ashley herum und stellte sie vor, doch sie war zu sehr mit sich beschäftigt, um auf die Namen zu achten. Die Namen verschwammen alle miteinander. Da war die Fette, der Knochige, die Kahle, der Lahme, die Chinesin und der Sanftmütige. Alle wirkten ausgesprochen freundlich.