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Sie hörte förmlich die dunkelbraune Stimme ihrer Mutter: Du verschwendest bloß das teure Papier und die Farben. Du hast kein Talent.

Sie war zutiefst verunsichert gewesen, als sie nach Kalifornien gekommen war. Anfangs hatte sie sich den Kopf darüber zerbrochen, ob sie sich wohl jemals eingewöhnen würde, doch Cupertino hatte sie angenehm überrascht. Sie genoß die Ruhe und das vertraute Miteinander der Menschen, das es nur in einer Kleinstadt gab, und die Arbeit bei der Global Computer Graphics Corporation machte ihr Spaß. Zwar gab es in Cuper-tino keine bedeutenden Galerien oder Museen, aber am Wochenende fuhr Alette nach San Francisco und besuchte die dortigen Kunsthallen.

»Wieso interessierst du dich so für dieses Zeug?« fragte Toni Prescott sie manchmal. »Komm mit ins P. J. Mulligans und amüsier dich ein bißchen.«

»Machst du dir denn gar nichts aus Kunst?«

Toni lachte. »Klar doch. Wie heißt er mit Vornamen?«

Nur etwas trübte Alette Peters Glück: Sie war manischdepressiv und litt an Kontaktschwierigkeiten. Ihre Stimmung konnte völlig unverhofft umschlagen - eben war sie noch euphorisch, und im nächsten Moment am Boden zerstört. Sie hatte keinerlei Einfluß darauf.

Toni war die einzige, mit der sich Alette über ihre Probleme unterhalten konnte. Toni wußte immer eine Lösung, und für gewöhnlich lautete die: »Komm, wir ziehen los und amüsieren uns!«

Mit Vorliebe ließ sich Toni über Ashley Patterson aus. Sie beobachtete, wie Shane Miller mit Ashley redete.

»Schau dir diese verklemmte Zicke an«, sagte Toni abfällig. »Der reinste Eisberg.«

Alette nickte. »Sie ist immer so ernst. Jemand sollte ihr mal beibringen, was Lachen heißt.«

Toni schnaubte. »Der sollte mal jemand beibringen, was vögeln heißt.«

Einen Abend pro Woche ging Alette zur Obdachlosenmission in San Francisco und half bei der Essensausgabe. Dort traf sie eine kleine alte Frau, die sich immer ganz besonders auf ihre Besuche freute. Sie saß im Rollstuhl, und Alette schob sie an einen Tisch und brachte ihr eine warme Mahlzeit.

»Meine Liebe, wenn ich eine Tochter hätte, müßte sie genauso sein wie Sie«, sagte die Frau voller Dankbarkeit.

Alette drückte ihr die Hand. »Was für ein wunderbares Kompliment. Vielen Dank.« Doch dann meldete sich eine innere Stimme. Wenn du eine Tochter hättest, wäre sie bestimmt genauso häßlich wie du. Und Alette war entsetzt von ihren eigenen Gedanken. Es war, als ob da ein anderes Wesen in ihr steckte und diese entsetzlichen Worte sagte. Es passierte ständig.

Einmal ging sie mit Betty Hardy, einer Frau aus ihrer Kirchengemeinde, einkaufen. Sie blieben vor einem Warenhaus stehen.

Betty bewunderte ein Kleid, das im Schaufenster hing. »Ist das nicht wunderschön?«

»Zauberhaft«, pflichtete Alette ihr bei. Das ist das scheußlichste Kleid, daß ich je gesehen habe. Genau das richtige für dich.

Eines Abends ging Alette mit Roland, dem Küster der Kirche, zum Essen aus. »Ich genieße unser Zusammensein sehr, Alette. Wir sollten das öfter machen.«

Sie lächelte schüchtern. »Von mir aus gern.« Doch sie dachte dabei: Non faccia, lo stupido. Nie im Leben, du Blödmann. Und wieder war sie entsetzt. Was fehlt mir nur? Aber darauf wußte sie keine Antwort.

Der geringste Affront, ob beabsichtigt oder nicht, konnte sie zur Raserei treiben. Eines Morgens zum Beispiel wurde sie auf dem Weg zur Arbeit von einem anderen Wagen geschnitten. Sie biß die Zähne zusammen und dachte: Ich bring dich um, du Mistkerl. Der Mann hob entschuldigend die Hand, und Alette lächelte ihn freundlich an. Aber innerlich kochte sie immer noch vor Wut.

Wenn sich die schwarze Wolke auf sie herabsenkte, stellte sich Alette vor, wie die Leute auf der Straße einem Herzinfarkt erlagen, von einem Auto erfaßt oder überfallen und umgebracht würden. Sie spielte diese Szenen in ihrer Phantasie durch, und sie standen ihr lebhaft vor Augen. Im nächsten Moment schämte sie sich zu Tode.

An guten Tagen wirkte Alette wie ausgewechselt. Sie war von Grund auf freundlich, voller Mitgefühl und freute sich, wenn sie andern helfen konnte. Doch ihr Glücksgefühl war trügerisch, wußte sie doch, daß sich die Düsternis jederzeit wieder auf sie legen und sie in ihren Bann schlagen konnte.

Jeden Sonntagmorgen ging Alette zur Kirche. Die Gemeinde brauchte ständig ehrenamtliche Helfer, die bei der Speisung der Obdachlosen mitwirkten, mit den Kindern nach der Schule zeichneten und malten und ihnen Nachhilfeunterricht gaben.

Alette leitete die Sonntagsschule und half bei der Kinderbetreuung. Sie nahm an allerlei wohltätigen Veranstaltungen teil und opferte dafür soviel Zeit, wie sie nur konnte. Vor allem aber freute sie sich, wenn sie den Jüngsten Malunterricht geben konnte.

Eines Sonntags veranstaltete die Gemeinde einen Wohltätigkeitsbasar, bei dem Alette ein paar ihrer Bilder zum Verkauf feilbot. Der Pfarrer, Frank Selvaggio, betrachtete sie voller Bewunderung.

»Die sind - die sind ja großartig. Sie sollten sie in einer Galerie verkaufen.«

Alette errötete. »Nein, wirklich nicht. Ich mache das nur aus Spaß.«

Der Basar war gut besucht. Die Gemeindemitglieder hatten ihre Freunde und Angehörigen mitgebracht, und man hatte allerlei Stände und Buden aufgebaut, an denen die Besucher sich beim Spiel vergnügen oder Bastelarbeiten und Kunsthandwerk kaufen konnten. Es gab wunderbar verzierte Torten, hinreißende handgearbeitete Steppdecken, selbstgemachte Marmelade in hübschen Gläsern und allerhand Holzspielzeug. Die Leute gingen von Stand zu Stand, kauften hier eine Kleinigkeit, dort eine andere und erstanden allerlei Sachen, für die sie am nächsten Tag vermutlich keine Verwendung hatten.

»Aber es geht doch um eine gute Sache«, hörte Alette eine Frau sagen, die es ihrem Mann erklärte.

Alette betrachtete ihre Bilder, die sie rund um den Stand aufgebaut hatte. Es waren hauptsächlich Landschaften, in hellen, leuchtenden Farben gemalt, die einem förmlich entgegensprangen. Doch sie hatte schwere Bedenken. Du vergeudest das schöne Geld für Farben, Kind.

Ein Mann kam zu ihrem Stand. »Hallo. Haben Sie die etwa gemalt?«

Seine Stimme war tiefblau.

Nein. Michelangelo hat kurz vorbeigeschaut und sie gemalt.

»Sie sind sehr begabt.«

»Vielen Dank.« Was verstehst du schon davon?

Ein junges Paar blieb vor Alettes Stand stehen. »Schau dir diese Farben an! Davon muß ich unbedingt eins haben. Die sind ja richtig gut.«

Und so ging das den ganzen Nachmittag. Ständig kamen Leute an ihren Stand und erklärten ihr, wie begabt sie sei. Und Alette hätte ihnen nur zu gern geglaubt, doch jedesmal fiel wieder der schwarze Vorhang, und sie dachte: Die lassen sich alle etwas vormachen.

Ein Kunsthändler kam vorbei. »Die sind ja wirklich zauberhaft. Sie sollten Ihr Talent kommerziell nutzen.«

»Ich bin reine Freizeitmalerin«, versetzte Alette. Und sie weigerte sich, weiter über das Thema zu sprechen.

Als der Tag zur Neige ging, hatte Alette sämtliche Bilder verkauft. Sie nahm das Geld, das sie eingenommen hatte, steckte es in einen Umschlag und gab ihn Pater Frank Selvag-gio.