Dr. Keller nickte. »Ashley hat bemerkenswerte Fortschritte gemacht. Ich glaube, in ein paar Monaten können wir sie in ambulante Behandlung entlassen.«
»Das ist ja hervorragend. Meinen Glückwunsch.«
Ich werde sie vermissen, dachte Dr. Keller. Ich werde sie schrecklich vermissen.
Als Ashley an diesem Nachmittag in den Aufenthaltsraum kam, fiel ihr Blick auf die Westport News, die jemand dort liegengelassen hatte. Auf der Titelseite befand sich ein Foto ihres Vaters zusammen mit Victoria Aniston und Katrina. Der Artikel darunter begann mit den Zeilen: »Dr. Steven Patterson und die aus einer alteingesessenen Familie stammende Victoria Aniston haben ihre bevorstehende Vermählung bekanntgegeben. Wie in diesem Zusammenhang zu erfahren war, wird Dr. Patterson demnächst am St. Johns Hospital in Manhattan tätig sein. Er und seine zukünftige Gemahlin haben ein Haus auf Long Island gekauft, in dem sie mit Miss Anistons dreijähriger Tochter aus erster Ehe .«
Ashley konnte nicht mehr weiterlesen. Mit wutverzerrtem Gesicht blickte sie auf. »Ich bring’ den Dreckskerl um«, schrie Toni. »Ich bringe ihn um!«
Sie war völlig außer sich. Sie mußten sie in eine Gummizelle bringen und ihr Hand- und Fußfesseln anlegen, damit sie sich nichts antun konnte. Doch die Pfleger, die sie füttern wollten, mußten dennoch aufpassen, daß sie ihr nicht zu nahe kamen. Sie hatte sich Ashley jetzt völlig unterworfen.
»Dr. Salem möchte Sie am Telefon sprechen, Mr. Singer.«
»Gut.« Verdutzt griff David nach dem Hörer. Wieso Dr. Salem ihn wohl anrief? Es war Jahre her, seit sie zum letztenmal miteinander zu tun hatten. »Royce.«
»Guten Morgen, David. Ich habe eine interessante Neuigkeit für Sie. Es geht um Ashley Patterson.«
David empfand plötzlich Unruhe. »Was ist mit ihr?«
»Erinnern Sie sich, wie wir uns bemüht haben herauszubekommen, welches Trauma ihren Zustand verursachte, und nichts finden konnten?«
David erinnerte sich nur zu gut daran. Schließlich war das eine der Schwächen ihrer Verteidigung gewesen. »Ja.«
»Nun, ich habe gerade erfahren, was es war. Mein Freund Dr. Lewison, der Leiter des Conneticut Psychiatrie Hospital, hat mich angerufen. Das fehlende Puzzlestück heißt Dr. Steven Patterson. Er war es, der Ashley als Kind sexuell mißbraucht hat.«
»Was?« fragte David ungläubig.
»Dr. Lewison hat es soeben erfahren.«
David saß da, während Dr. Salem weitersprach, doch in Gedanken war er ganz woanders. Er erinnerte sich an Dr. Pattersons Worte: »Sie sind der einzige, dem ich vertraue, David. Meine Tochter ist mein ein und alles. Sie müssen ihr das Leben retten ... Ich möchte, daß Sie Ashley verteidigen, und ich möchte nicht, daß jemand, anders hinzugezogen wird.«
Nun war David auch klar, wieso Dr. Patterson darauf bestanden hatte, daß er Ashley allein vertrat. Der Arzt war sich sicher gewesen, daß David ihn decken würde, wenn er herausbekäme, was er getan hatte. Dr. Patterson hatte sich zwischen seiner Tochter und seinem Ruf entscheiden müssen, und er hatte seinen Ruf gewählt. So ein Mistkerl!
»Danke, Royce.«
»Laß mich hier raus, du Mistkerl«, schrie sie, als sie Dr. Keller sah. »Auf der Stelle.«
»Wir lassen Sie wieder heraus«, sagte Dr. Keller besänftigend. »Aber erst müssen Sie sich beruhigen.«
»Ich bin völlig ruhig«, brüllte Toni. »Laß mich raus!«
Dr. Keller ließ sich neben ihr auf dem Boden nieder. »Toni«, sagte er, »als Sie das Foto von Ihrem Vater sahen, sagten Sie, Sie wollten ihm etwas zuleide tun und -«
»Du lügst ja! Ich habe gesagt, ich bring’ ihn um.«
»Es hat schon genug Tote gegeben. Sie wollen niemanden mehr erstechen.«
»Ich will ihn ja gar nicht erstechen. Hast du schon mal was von Salzsäure gehört? Die frißt sich überall durch, auch durch die Haut. Wart’s mal ab, bis ich -«
»An so etwas dürfen Sie gar nicht denken.«
»Recht hast du. Feuer! Feuer ist viel besser. Dann muß er nicht warten, bis er in der Hölle schmort. Irgendwie krieg’ ich schon hin, daß ich nicht geschnappt werde, wenn -«
»Toni, vergessen Sie es.«
»Na schön. Ich kann mir ja noch was Besseres einfallen lassen.«
Er musterte sie einen Moment lang verbittert. »Ich dachte, das hätten wir hinter uns. Warum sind Sie so wütend?«
»Weißt du das denn nicht? Du bist doch angeblich so ein toller Doktor. Er heiratet eine Frau, die eine dreijährige Tochter hat. Was meinst du wohl, was er mit der Kleinen macht, mein hochgerühmtes Doktorchen? Ich sag’s dir. Das gleiche wie mit uns. Und das werde ich verhindern.«
»Ich dachte, all diesen Haß wären wir los.«
»Willst du mal wissen, was Haß ist?«
Es goß in Strömen. Unentwegt pladderten die Regentropfen auf das Autodach. Sie blicke zu ihrer Mutter, die am Lenkrad saß und mit verkniffenen Augen nach vorn, auf die Straße schaute, und sie lächelte gut gelaunt und stimmte ein Lied an.
»Will ich in mein Gärtlein gehn, will mein Zwiebel gießen -«
Ihre Mutter drehte sich um und schrie: »Halt den Mund. Ich habe dir doch gesagt, daß ich das Lied nicht ausstehen kann. Du reizt mich bis aufs Blut, du kleine -«
Danach lief alles wie in Zeitlupe ab. Die Kurve, die plötzlich vor ihnen auftauchte, der ausbrechende Wagen, der von der Straße abkam, auf den Baum zuraste. Sie wurde beim Aufprall aus dem Auto geschleudert. Sie war benommen, aber nicht weiter verletzt. Sie rappelte sich auf. Sie hörte die Schreie ihrer Mutter, die im Wagen eingeklemmt war. »Hol mich hier raus! Hilf mir! Hilf mir!«
Und sie stand da und wartete, bis der Wagen in Flammen aufging.
»Von wegen Haß. Willst du noch mehr hören?«
»Wir müssen einen einstimmigen Beschluß fassen«, sagte Walter Manning. »Meine Tochter ist Künstlerin von Beruf, keine Hobbymalerin. Meine Tochter wollte uns damit einen Gefallen tun. Wir können ihr Bild nicht ablehnen.«
Sie saß in ihrem Wagen, der mit laufendem Motor am Straßenrand stand. Sie beobachtete, wie Walter Manning die Straße überqueren und zu der Garage gehen wollte, in der er immer sein Auto abstellte. Sie legte den Gang ein und trat das Gaspedal durch. Im letzten Moment hörte er den aufheulenden Motor und drehte sich um. Sie sah seinen Gesichtsausdruck, als ihn der Wagen erfaßte und zur Seite schleuderte. Danach fuhr sie einfach weiter, als ob nichts geschehen wäre. Es gab keinerlei Zeugen. Gott war auf ihrer Seite.
»Das ist Haß, Doktorchen! Echter Haß!«
Gilbert Keller hörte sich ihre Geschichte an. Er war entsetzt und völlig verstört über die kaltblütige Bosheit, die aus ihren Worten sprach. Er sagte alle weiteren Termine an diesem Tag ab. Er wollte von niemandem behelligt werden.
Als Dr. Keller am nächsten Morgen in die Gummizelle kam, hatte er es mit Alette zu tun.
»Weshalb tun Sie mir so was an, Dr. Keller?« fragte sie. »Lassen Sie mich hier raus.«
»Gewiß doch«, versicherte ihr Dr. Keller. »Erzählen Sie mir etwas über Toni. Was hat sie Ihnen gesagt?«
»Sie hat gesagt, daß wir zusehen müssen, wie wir von hier wegkommen, damit wir Vater umbringen können.«
Toni schaltete sich ein. »Morgen, Doktorchen. Uns geht’s wieder bestens. Wieso läßt du uns nicht raus?«
Dr. Keller sah sie an. In ihren Augen stand die blanke Mordlust.
Dr. Otto Lewison seufzte. »Tut mir furchtbar leid, Gilbert. Zumal sich alles so gut angelassen hat.«
»Derzeit komme ich überhaupt nicht an Ashley ran.«
»Was vermutlich heißt, daß wir wieder von vorne anfangen können.«
Dr. Keller dachte einen Moment lang nach. »Nicht unbedingt, Otto. Wir waren schon so weit, daß sich alle drei miteinander bekannt gemacht haben. Das war der entscheidende Schritt. Jetzt müssen wir sie wieder zusammenführen. Dazu wird mir schon noch etwas einfallen.«