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»Wäre es möglich, daß Sie vor etwas davongerannt sind? Hat Sie irgend etwas verfolgt?«

»Ich weiß es nicht. Ich - ich glaube, daß man mir nachstellt, Dr. Speakman. Es klingt verrückt, aber - ich glaube, jemand will mich umbringen.«

Er musterte sie einen Moment lang. »Wer sollte Sie denn umbringen wollen?«

»Ich - ich habe keine Ahnung.«

»Haben Sie gesehen, daß Ihnen jemand nachstellt?«

»Nein.«

»Sie leben allein, nicht wahr?«

»Ja.«

»Treffen Sie sich ab und zu mit jemandem? Privat, meine ich?«

»Nein. Im Augenblick nicht.«

»Dann ist es also eine Weile her, daß Sie - ich meine, wenn eine Frau keinen festen Partner hat, kann es vorkommen, daß es - nun ja, zu einer Art körperlichen Anspannung kommt .«

Er will mir damit sagen, daß ich mal wieder tüchtig - sie brachte es nicht über sich, das Wort auszusprechen. Sie hörte förmlich, wie ihr Vater sie anbrüllte. Sprich dieses Wort nie wieder aus. Die Leute denken ja, du wärst eine kleine Schlampe. Anständige Menschen sagen nicht »vögeln«. Wo hast du denn diese Ausdrucksweise her?

»Meiner Meinung nach haben Sie einfach zuviel gearbeitet, Ashley. Ich glaube nicht, daß Sie sich deswegen Sorgen zu machen brauchen. Vermutlich ist es nur die Anspannung. Treten Sie eine Zeitlang ein bißchen kürzer. Gönnen Sie sich etwas mehr Ruhe.«

»Ich werd’s versuchen.«

Shane Miller wartete bereits auf sie. »Was hat Dr. Speakman gesagt?«

Ashley rang sich ein Lächeln ab. »Er sagt, es ist alles in Ordnung. Ich arbeite nur zuviel.«

»Tja, dann müssen wir etwas dagegen tun«, sagte Shane. »Fangen wir doch gleich damit an. Wie wär’s, wenn du dir den restlichen Tag freinimmst?« Er klang sehr besorgt.

»Danke.« Sie schaute ihn an und lächelte. Er war ein lieber Kerl. Ein guter Freund.

Er kann es nicht sein, dachte Ashley. Niemals.

In der darauffolgenden Woche mußte Ashley immer wieder an das bevorstehende Klassentreffen denken. Ob es wohl ein Fehler ist, wenn ich dort hinfahre? Was ist, wenn Jim Cleary doch aufkreuzt? Weiß er überhaupt, wie sehr er mich verletzt hat? Macht es ihm etwas aus? Kann er sich überhaupt noch an mich erinnern?

In der Nacht vor ihrer Abreise nach Bedford konnte Ashley nicht schlafen. Am liebsten hätte sie den Flug storniert. Ich bin albern, dachte sie. Was vorbei ist, ist vorbei.

Als Ashley am nächsten Morgen ihr Flugticket abholte, warf sie einen kurzen Blick darauf und stutzte dann. »Ich fürchte, hier liegt ein Irrtum vor«, sagte sie. »Ich fliege in der Touristenklasse. Aber das ist ein Ticket für die erste Klasse.«

»Ja. Sie haben doch umgebucht.«

Sie starrte den Mann am Schalter an. »Was habe ich?«

»Sie haben angerufen und gesagt, Sie möchten auf die erste Klasse umbuchen.« Er zeigte Ashley einen Beleg. »Ist das Ihre Kreditkartennummer?«

Sie warf einen Blick darauf. »Ja ...«, sagte sie tonlos.

Sie wußte genau, daß sie nicht angerufen hatte.

Ashley traf zeitig ein und mietete sich ein Zimmer im Bedford Springs Resort. Die offizielle Wiedersehensfeier begann erst um sechs Uhr abends. Bis dahin wollte sie ein bißchen die Stadt erkunden. Sie besorgte sich vor dem Hotel ein Taxi. »Wohin soll’s gehen, Miss?«

»Fahren Sie einfach ein bißchen durch die Gegend.«

Wenn man nach vielen Jahren wieder in seine Heimatstadt zurückkehrt, kommt sie einem normalerweise kleiner vor, als man sie in Erinnerung hat, aber Ashley hatte den Eindruck, daß Bedford eher größer wirkte. Das Taxi fuhr die altbekannten Straßen auf und ab, an der Bedford Gazette vorbei, am Gebäude des lokalen Fernsehsenders WKYE, an etlichen vertrauten Restaurants und Galerien. Das Baker’s Loaf of Bedford, ihre alte Lieblingsbäckerei, gab es immer noch, desgleichen Clara’s Place, das Fort Bedford Museum und das Old Bedford Village. Sie passierten das Memorial Hospital, einen anmutigen zweistöckigen Ziegelbau, dessen Vorderseite von Säulen gesäumt war. Hier hatte es ihr Vater zu Ruhm und Ehren gebracht.

Wieder fielen ihr die lauten Streitgespräche ihrer Eltern ein. Es war immer um das gleiche gegangen. Aber worum? Sie wußte es nicht mehr.

Um fünf Uhr kehrte Ashley ins Hotel zurück. Sie zog sich dreimal um und konnte sich immer noch nicht entscheiden, was sie tragen sollte. Schließlich wählte sie ein schlichtes schwarzes Kleid, das ihrer Figur schmeichelte.

Als Ashley die festlich geschmückte Turnhalle der HighSchool betrat, sah sie rundum etwa hundertzwanzig Personen, die ihr vage vertraut vorkamen. Ein paar ihrer alten Klassenkameraden hätte sie beim besten Willen nicht mehr erkannt; andere hingegen hatten sich kaum verändert. Ashley aber hielt zunächst nur nach Jim Cleary Ausschau. Ob er sich wohl sehr verändert hat? Hat er vielleicht seine Frau dabei? Etliche Leute kamen auf sie zu.

»Hallo, Ashley, ich bin Trent Waterson. Toll siehst du aus!« »Danke. Du auch, Trent.«

»Ich möchte dir meine Frau vorstellen .«

»Du bist doch Ashley, nicht wahr?«

»Ja, äh -«

»Art. Art Davies. Kannst du dich noch an mich erinnern?« »Natürlich.« Er war schlecht gekleidet und fühlte sich sichtlich unwohl.

»Wie geht’s dir denn, Art?«

»Tja, weißt du, ich wollte ja eigentlich Ingenieur werden, aber irgendwie hat das nicht hingehaun.«

»Tut mir leid.«

»Na, und dann bin ich halt Maschinenbauer geworden.«

»Ashley! Lenny Holland, erinnerst du dich? Meine Güte, du siehst wunderbar aus!«

»Besten Dank, Lenny.« Er hatte zugenommen und trug einen schweren Diamantring am kleinen Finger.

»Ich mach’ jetzt in Immobilien. Läuft bestens. Bist du inzwischen in festen Händen?«

Ashley zögerte. »Nein.«

»Kannst du dich noch an Nicki Brandt erinnern? Wir sind miteinander verheiratet. Wir haben Zwillinge.«

»Herzlichen Glückwunsch.«

Kaum zu glauben, wie sehr sich Menschen innerhalb von zehn Jahren verändern konnten. Den einen ging es offensichtlich gut, andere wirkten eher heruntergekommen. Etliche waren verheiratet, ein paar schon wieder geschieden . einige hatten Familie, andere waren kinderlos.

Sie aßen gemeinsam zu Abend, und anschließend gab es Musik und Tanz. Ashley unterhielt sich mit ihren ehemaligen Klassenkameraden und erfuhr nach und nach, wie es ihnen ergangen war, doch sie mußte fortwährend an Jim Cleary denken. Bislang hatte er sich noch nicht blicken lassen. Er kommt bestimmt nicht mehr, sagte sie sich schließlich. Er weiß, daß ich möglicherweise hier bin, und hat Angst davor, mir unter die Augen zu treten.

Eine attraktive Frau sprach sie an. »Ashley! Ich hatte ja so darauf gehofft, daß ich dich hier sehe.« Es war Florence Schiffer. Ashley freute sich von ganzem Herzen über das Wiedersehen. Florence war eine ihrer besten Freundinnen gewesen. Sie suchten sich einen Tisch in einer abgelegenen Ecke, wo sie ungestört miteinander plaudern konnten.

»Du siehst großartig aus, Florence«, sagte Ashley.

»Du aber auch, ‘tschuldige, daß ich so spät komme. Aber dem Kleinen ging’s nicht besonders gut. Ich hab’ nämlich geheiratet, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, bin aber schon wieder geschieden. Ich habe jetzt den absoluten Traummann an der Hand. Und was ist mit dir? Du bist nach der Abschlußfeier einfach abgehauen. Ich hab’ mich noch nach dir erkundigt, aber irgend jemand hat gesagt, daß du weggezogen wärst.«

»Ich bin nach London gegangen«, sagte Ashley. »Mein Vater hat mich dort auf einem College angemeldet. Wir sind am nächsten Morgen abgereist.«

»Ich hab’ Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, weil ich unbedingt erfahren wollte, wo du abgeblieben bist. Die Polizei hat nämlich gedacht, ich wüßte, wo du steckst. Die haben dich gesucht, weil du seinerzeit mit Jim Cleary gegangen bist.«

»Die Polizei?« sagte Ashley tonlos.

»Ja. Die Kripo, die Polizisten, die wegen dem Mord ermittelt haben.«

Ashley spürte, daß sie kreidebleich wurde. »Was - was für ein Mord?«

Florence starrte sie an. »Mein Gott. Weißt du das etwa nicht?«

»Was denn?« herrschte Ashley sie an. »Wovon redest du überhaupt?«

»Am Tag nach der Abschlußfeier sind Jims Eltern nach Hause gekommen und haben seine Leiche gefunden. Jemand hat ihn erstochen und entmannt.«

Vor Ashley s Augen drehte sich alles. Sie hielt sich an der Tischkante fest. Florence ergriff sie am Arm.

»Tut mir - tut mir leid, Ashley. Ich dachte, du hättest es aus der Zeitung erfahren. Aber natürlich, du warst ja unterwegs nach London.«

Ashley kniff die Augen zusammen. Sie hatte das Bild noch genau vor Augen, wie sie sich aus dem Haus geschlichen hatte, um zu Jim Cleary zu gehen. Aber sie war umgekehrt und wieder nach Hause gegangen, weil sie bis zum nächsten Morgen hatte warten wollen. Wenn ich doch nur zu ihm gegangen wäre, dachte Ashley, dann wäre er vielleicht noch am Leben. Und ich habe ihn all die Jahre gehaßt. Aber wer könnte ihn nur umgebracht haben? Wer -?

Und sie hörte die Stimme ihres Vaters: Ab sofort lassen Sie die Finger von meiner Tochter. Haben Sie verstanden? Wenn ich Sie noch einmal hier sehe, breche ich Ihnen sämtliche Knochen.

Sie stand auf. »Entschuldige mich bitte, Florence. Ich - mir ist nicht ganz wohl.«

Ashley flüchtete förmlich von der Fete.

Die Polizisten. Sie mußten sich doch mit ihrem Vater in Verbindung gesetzt haben. Warum hat er es mir nicht erzählt?

Sie buchte einen Platz in der ersten Maschine, die nach Kalifornien ging. Der Morgen brach bereits an, als sie endlich einschlief. Und dann hatte sie einen Alptraum. Sie sah eine Gestalt im Dunkeln stehen, die Jim anschrie und auf ihn einstach. Dann trat der Mörder ins Licht.

Es war ihr Vater.