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Offiziell galt er als Gesetzesbrecher, auf den ein Kopfgeld ausgesetzt war, doch es gab niemanden, der ihn ans Messer geliefert hätte. Vogelscheuchen-Jack war ein Teil des Waldes, was allgemein so hingenommen wurde.

Zu anderen Menschen hielt er Abstand, denn er war von Natur aus scheu und fühlte sich nicht wohl in Gesellschaft. Manche behaupteten, dass er zum Volk der Zwerge gehöre, ein Kobold sei oder gar eine Kreuzung aus Mensch und Dämon, doch dem war nicht so. Er war ein einfacher Mann, der den Wald über alles in der Welt liebte.

Vogelscheuchen-Jack.

Er stand auf und nahm das Seil zur Hand, das er um seine Schulter geschlungen hatte. Er prüfte den Knoten, mit dem er den Draggen befestigt hatte, und nahm mit Blick auf die hohen Zinnen Maß. Um ein Gefühl für das Gewicht des kleinen Ankers zu bekommen, ließ er ihn eine Weile hin und her pendeln; dann holte er schwungvoll aus und schleuderte ihn in den Nachthimmel hinaus. Im Mondlicht glitzernd, flog der Draggen in hohem Bogen über die Brustwehr und verschwand dahinter. Jack zog nun an dem Seil, bis sich der Draggen auf der anderen Seite fest verhakt hatte, und kletterte wendig und flink die Mauer empor, an der er ausreichend viele Trittstellen für die Fußspitzen fand.

Bald hatte er die Zinnen und den Wehrgang dahinter erreicht. Kauernd verharrte er einen Augenblick lang auf der Stelle, doch da war offenbar keiner, der ihn bemerkt hätte.

Lautlos schlich er nach unten in den Hof und zu den Ställen. Die Anzahl der dort untergebrachten Pferde würde ihm verraten, wie viele Gardisten im Fort stationiert waren. Schon auf halbem Weg spürte er, dass hier etwas schrecklich im Argen lag. Er blieb vor dem um einen Spaltbreit geöffneten Stalltor stehen und schnüffelte.

Schwer hing der kupferne Geruch von Blut in der Luft. Vorsichtig stieß er das Tor auf und schlich langsam nach innen, setzte einen Schritt vor den anderen. Dann fuhr er vor Schreck zusammen, als er die Verwüstungen und all die dunklen Flecken entdeckte - das viele Blut, wie er sofort erkannte. Jack krauste die Stirn. Allem Anschein nach waren diese längst getrockneten Blutflecken schon einige Wochen alt, trotzdem war ihr Gestank kaum auszuhalten. Er suchte auf dem Boden nach irgendwelchen Hinweisen und kam zu dem Ergebnis, dass vor kurzem zwei Personen hier gewesen sein muss-ten.

Doch es gab keine Spur, die erklärt hätte, was den Pferden widerfahren war. Mit düsterer Miene ging Jack nach draußen.

Die Luft im Hof war frisch und klar. Er atmete tief ein und aus, um den bestialischen Blutgestank loszuwerden.

Jack sah sich um. Er ahnte, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste, weshalb das Fort verlassen war, und zwar schon seit langem, wie es schien. Genau das verunsicherte ihn. Es war auf natürliche Weise nicht zu erklären und reizte seine Nerven wie jenes Donnergrollen, das, weil allzu weit entfernt, noch gar nicht zu hören war. Jack verließ sich auf seine Instinkte nicht weniger als auf seinen Verstand. Mit argwöhnischem Blick folgte er den Spuren der Gardisten, die über den Hof auf das Hauptportal zuführten.

Im Vorraum standen vier Pferde, dicht an dicht und offenbar schlafend. Eingedenk des Zustandes, in dem sich die Ställe befanden, nickte er verständnisvoll mit dem Kopf. Weniger leicht zu verstehen waren dagegen die vier Schlingen, die von der Decke hingen. Jack kniff die Brauen zusammen. Das ungute Gefühl, das sich ihm schon im Hof aufgedrängt hatte, war in diesem Vorraum noch stärker, zumal es hier wieder schrecklich nach Blut stank. Und es war kalt, unnatürlich kalt. Er spürte in den Knochen, dass sich hier Entsetzliches zugetragen hatte. Er folgte den Spuren der Gardisten, die auf dem staubigen Dielenboden gut auszumachen waren. Obwohl er leise an ihnen vorbeischlich, schienen die Pferde in ihrem Schlaf gestört.

Vielleicht durch schlechte Träume. Zögernd betrat Jack den Korridor. Die Dunkelheit machte ihm nichts aus, aber es behagte ihm nicht, von allen Seiten ummauert zu sein. Er fühlte sich wie in einer Falle und hatte die Vorstellung, die Wände würden immer enger zusammenrücken. Um den Gedanken zu verscheuchen, schüttelte er sich wie ein Hund und ging entschlossen weiter.

Er folgte den Spuren durch schmale Korridore und gelangte schließlich in den Speisesaal. Er öffnete die Tür einen Spaltbreit, spähte in den hell erleuchteten Raum und hielt die Luft an. Da hockte eine Frau, die über drei schlafende Gefährten wachte. Als er sah, dass auch sie eingeschlafen war, entspannte er sich ein wenig. An ihrem Äußeren erkannte Jack die vier Fremden als Ranger — und er war enttäuscht, weil er Ranger immer für sehr viel geschickter gehalten hatte. Seine Furchen auf der Stirn wurden noch tiefer, als ihm auffiel, dass sie im Schlaf mit Armen und Beinen zuckten und vor sich hin murmelten. Offenbar träumten sie schlecht, was er verstehen konnte. Es gruselte ihn selbst hier an diesem Ort. Plötzlich fuhr einer der Ranger schreiend in die Höhe und weckte die anderen.

Aus Angst, entdeckt zu werden, wagte es Jack nicht sich zu rühren. Still und reglos stand er hinter der Tür und hörte zu, wie sie einander ihre Träume erzählten. Einer der vier bemerkte ihn dann doch.

Die dunkle Gestalt war verschwunden, ehe MacNeil die Tür erreichte. Mit gezücktem Schwert rannte er ihr im Korridor nach. Auf den ersten Blick hatte sie eine verstörende Ähnlichkeit mit einem der Dämonen aus seinem Traum. Doch als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah MacNeil, dass er einem Mann in Lumpen hinterherjagte. Da regte sich was in seiner Erinnerung. Vogelscheuchen-Jack?

MacNeil schmunzelte in sich hinein. Er hatte von diesem Spitzbuben gehört, auch davon, dass ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt war. Er legte noch einen Schritt zu und rannte, so schnell es seine müden Beine erlaubten. Doch der andere lief wie ein aufgeschreckter Hirsch und war MacNeil bald aus den Augen entschwunden. Trotzdem rannte er weiter, ohne auf seine Gefährten zu achten, die in einigem Abstand folgten. Die Jagd dauerte an und führte durch etliche Räume und Flure, die im Dunklen kaum voneinander zu unterscheiden waren. Der Verfolgte hatte schon den Hof erreicht, als MacNeil in den Vorraum gelaufen kam, wo er kurz anhalten musste, um die aufgescheuchten Pferde zu beruhigen. Als er endlich in den Hof hinauslief, war Vogelscheuchen-Jack nirgends zu sehen. Wenig später waren auch die anderen drei zur Stelle. Gemeinsam standen sie vor dem Portal und starrten in den dunklen Hof hinaus.

»Wen suchen wir eigentlich, wenn ich fragen darf?«, keuchte Constance.

»Einen Gesetzlosen«, antwortete MacNeil. »Er hat uns vor der Tür zum Speiseraum aufgelauert.«

»Wie lange?«, wollte Flint wissen.

»Allzu lange«, gab der Tänzer zurück. »Wer er auch ist, er ist sehr gut.«

»Vogelscheuchen-Jack, wenn ich mich nicht irre«, erklärte MacNeil.

Der Tänzer hob eine Braue. »Mir war gar nicht bewusst, dass wir uns in seinem Revier befinden. Was will er wohl von uns?«

»Wichtiger wäre zu wissen, wie er hier hereinkommen konnte und wo er jetzt hin ist.« MacNeil befingerte unruhig das Heft seines Schwertes. »Über den Haupteingang kann er nicht gekommen sein. Der ist immer noch verriegelt und verrammelt. Davon habe ich mich überzeugt, bevor wir schlafen gingen.«

»Wahrscheinlich ist er über die Außenmauer geklettert«, sagte Flint. »Vielleicht steht er jetzt irgendwo da oben auf dem Wehrgang.«

Sie alle blickten hoch zu den Zinnen, doch es war zu dunkel, um etwas zu erkennen.

»Wenn er es dort hinauf geschafft hat, ist er längst über alle Berge«, knurrte MacNeil. Nach kurzem Zögern rammte er sein Schwert in die Scheide. Flint und der Tänzer sahen einander an und steckten dann ihre Schwerter ebenfalls weg.

An Constance gewandt, sagte MacNeiclass="underline" »Kannst du deinen magischen Blick auf diesen Kerl richten?«

Die Hexe schüttelte den Kopf. »Irgendetwas, das hier im Fort steckt, verschleiert mir den Blick. Draußen im Wald könnte ich ihn vielleicht sehen.«