MacNeil blieb plötzlich stehen und drehte sich um. »Constance sagte, dass du… Fähigkeiten hättest, die uns helfen könnten. Was sind das für Fähigkeiten, Jack? Bist du etwa auch hellsichtig?«
Jack zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Ich hab ein ganz gutes Gespür für den Wald und alles, was darin lebt.
Und manchmal, in Ausnahmefällen, leihen mir die Bäume ihre Kraft, damit ich tun kann, was zu tun ist.«
MacNeil sah ihn aufmerksam an. »Spürst du irgendwas im Zusammenhang mit diesem Ort hier? Mit dem Biest?«
»Da ist etwas, nicht weit entfernt«, antwortete Jack mit entrücktem Blick. »Es schläft, weiß aber, dass wir uns nähern. Es ist sehr kalt. Und sehr hungrig…«
Wie zur Bestätigung gellte ein schrilles Wiehern aus der Tiefe, ein Schrei wie von einem rasenden Riesenpferd, so unerträglich laut, dass sich die drei Männer unwillkürlich die Ohren zuhielten. Der Schrei dauerte an, unnatürlich lange, brach aber dann urplötzlich ab. Das Echo hallte noch eine Weile nach, und schließlich war es wieder still. Die drei nahmen die Hände von den Ohren.
An Hammer gewandt, sagte MacNeiclass="underline" »Es wird Zeit, dass du dein Schwert ziehst. Das Eisen.«
»Nein«, entgegnete Hammer. »Noch nicht.«
»Wir brauchen es.«
»Du verstehst nicht«, entgegnete Hammer müde. »Du hast nicht die geringste Ahnung.«
Im Keller hockte Wilde auf einem Haufen Schrott und scharrte ungeduldig mit den Füßen. Er konnte es nicht leiden, warten zu müssen. Nichts tun zu können ging ihm auf die Nerven. Er hantierte an seinem Bogen herum, prüfte zum hundertsten Mal die Spannung der Sehne und griff immer wieder nach seinem Schwert.
Flint und der Tänzer saßen neben der Falltür. Ihnen schien das lange Warten nichts auszumachen. Sie wirkten entspannt und unterhielten sich leise. Wilde musterte die beiden und lächelte. Jessica hatte immer schon starke Nerven gehabt. Er erinnerte sich, wie sie zum Ende des Dämonenkrieges abseits und allein in einer Ecke des Burghofes ausgeharrt und daraufgewartet hatte, dass sich das große Tor zur Entscheidungsschlacht öffnete. Sie hatte großartig ausgesehen in ihrem glänzenden Kettenhemd und den pechschwarzen, zu einem Pferdeschwanz zusammen gefassten Haaren. Auch damals war ihr Gesicht vollkommen entspannt gewesen, als sie mit Bedacht und langsamen Bewegungen die Schneide ihres Schwertes geschärft hatte. Er dagegen war unruhig auf- und abgelaufen, schweißgebadet und fast außer sich vor Angst. Doch beschämt von ihrer Ruhe und Gelassenheit, hatte er sich zusammengerissen und seine Fassung wiedergewonnen. Ihre Zuversicht hatte ihm geholfen. Das blieb ihm unvergessen.
Jetzt waren sie wieder zusammen und rüsteten sich ein weiteres Mal zum Kampf. Die Lage war kaum eine andere, dafür aber hatten sich die beteiligten Personen verändert. Insbesondere er selbst. Er seufzte leise und schüttelte den Gedanken ab. Das Vergangene war nicht zurückzuholen und darum am besten aus dem Gedächtnis zu streichen. Er richtete den Blick auf Giles, den Tänzer. Den hatte er sich immer sehr viel größer vorgestellt. Immerhin war dieser Mann Schwertmeister und von legendärem Ruf, einer, der unzählig viele Gegner im Kampf getötet hatte. Dabei sah er, aus der Nähe betrachtet, ziemlich durchschnittlich aus. Leute wie ihn traf man in jedem Wirtshaus gleich im Dutzend an. Wilde schmunzelte. Der Schwertmeister Sir Guillain hatte auch nicht besonders eindrucksvoll ausgesehen; doch wenn der in Raserei geraten war, hatte ihn nicht einmal die gesamt Königsgarde in Schach halten können. Das war erst mit seiner, Wildes, Hilfe möglich gewesen. Das Schmunzeln verschwand aus seinem Gesicht, als er darüber nachdachte, dass er jetzt an Giles Stelle sein und sich mit Jessica unterhalten und amüsieren könnte. Vor nur zehn Jahren war er noch als Held gefeiert worden, und Jessica war stolz daraufgewesen, an seiner Seite zu stehen. Doch seinen Platz neben Jessica hatte jetzt der Tänzer eingenommen und er selbst wurde geächtet.
Wilde zupfte an der gespannten Bogensehne. Darin steckte gebündelte Kraft - das spürte er in den Fingerspitzen
-, Kraft, die verletzen, töten und alles, was Widerstand leistete, gefügig machen konnte. Wahrscheinlich würde es bald zum Kampf kommen. Und wer mochte ihm dann verübeln, wenn in heilloser Hektik einer seiner Pfeile aus Versehen den verdammten Schwertmeister niederstreckte? Ohne ihren Tänzer wären die Ranger aufgeschmissen. Wilde grinste. Er würde ihnen das Gold abjagen, sich von Hammer freikaufen und Jess zurückgewinnen. Er würde ihr schon noch klarmachen, dass sie an seine Seite gehörte.
Constance lehnte sich mit dem Rücken an die kühle Wand und beobachtete Wilde aus den Augenwinkeln heraus.
Von den drei Banditen machte ihr Wilde die meisten Sorgen. Hammer war gefährlich, aber leicht zu durchschauen. Vogelscheuchen-Jack wurde offenbar von Hammer zur Komplizenschaft genötigt. Doch dieser Wilde… er strahlte etwas Unheimliches aus.
Während seines ersten Wortwechsels mit Flint hatte seine Stimme einen trauernden Ton anklingen lassen. Doch jetzt verriet sein Gesicht eine rohe, erbarmungslose Brutalität, die Constance dazu drängte, sich mit einem Schwert zu wappnen. Wenn er so töricht wäre, sich an ihr zu vergreifen, würde er bald feststellen müssen, dass ihr mehr als genug Zauberkraft zu Gebote stand, um sich gegen ihn durchzusetzen. Trotzdem, Wilde hatte etwas an sich, das sie abstieß und zugleich anzog. Anscheinend spürte sie, dass seine Verrohung auf eine bemitleidenswerte Tragödie zurückzuführen war.
Die Hexe schüttelte den Kopf und wandte ihre Aufmerksamkeit zurück auf die zugeklappte Falltür in der Mitte des Raumes. Am liebsten hätte sie Duncan begleitet. Doch die Vernunft ging vor. Sie wusste um ihre Verletzlichkeit gegenüber dem Biest, auch wenn es noch schlief. Ihr Beisein hätte Duncan zusätzlich gefährdet, und die Gefahr, in der er schwebte, war ohnehin groß genug, zumal sie zum Teil von ihm selbst ausging. Denn er ließ keine Schwäche an sich gelten und war gewissermaßen so hart wie starres Eisen, das aber zu zerbrechen drohte, wenn es unter Druck nicht auch ein Stück nachgeben konnte.
Duncan, pass auf, was sich in deinem Rücken abspielt. Und komm sicher wieder zurück.
Flint und der Tänzer saßen Seite an Seite und warteten geduldig auf ihren Einsatz. Flint polierte die Klinge ihres Schwertes mit einem Lappen, was zwar nicht nötig war, aber in der monotonen Bewegung doch beruhigend wirkte. Der Tänzer saß einfach nur da, entspannt und dennoch jeder Zeit bereit, zum Schwert zu greifen, das auf seinen Schenkeln lag. Er zeigte keinerlei Nervosität, was typisch für ihn war. Er stierte vor sich hin, und Flint fragte sich wieder einmal, woran er in diesem Augenblick denken mochte. Seit fast acht Jahren waren sie Partne - und ein Paar. Trotzdem rätselte sie noch immer vergeblich, was ihm durch den Kopf ging, wenn er einen so entrückten Eindruck machte wie jetzt.
Der Tänzer war ein seltsamer Vogel, der sich häufig in seine ganz persönliche Welt zurückzog. Flint zweifelte zwar nicht daran, dass er sie liebte, doch es war nicht immer leicht, mit ihm zurechtzukommen. Er redete nicht viel und überließ es gerne Flint, für ihn zu sprechen. Dabei war er beileibe nicht schwer von Begriff oder gar schüchtern. Er hatte einfach nicht viel zu sagen und ließ im Ernstfall lieber sein Schwert sprechen.
»Giles…«
»Ja?«
»Glaubst du, sie schaffen es, das Biest zu töten?«
Der Tänzer zuckte die Achseln. »Vielleicht. Hammer hat ein Infernaleisen. Solche Schwerter sind verdammt schlagkräftig.«
»Aber… wenn es nicht schlagkräftig genug ist. Wie stehen dann unsere Chancen, das Ungeheuer zu erledigen?«
»Ziemlich schlecht, würde ich meinen. Wir müssen'« trotzdem versuchen. Von uns hängt das Leben vieler Menschen ab.«
»Wie schon so oft. Aber diesmal könnte es uns auch selbst erwischen.«
»Berufsrisiko.«
»Hast du keine Angst, Giles?«
»Nein. Angst stört nur. Hast du etwa welche?«