Pflicht. Das Wort schlug in seinem Kopf an wie eine Glocke. Er fühlte sich seinem Königreich verpflichtet und tat darum als Ranger seinen Dienst. Aus Pflicht hatte er in der langen Nacht gegen Dämonen gekämpft. Zur Pflicht gehörte auch ein Ehrgefühl.
Jetzt begriff MacNeil, warum er in all den Jahren seinen Posten nie verlassen hatte und sich dazu auch in Zukunft niemals hinreißen lassen würde, gleichgültig was passieren mochte. Er hatte es schon häufig mit der Angst zu tun bekommen; daran war nichts Ehrenrühriges. Nur für Idioten und Tote gab es keine Furcht. Aus dem Gefühl für Pflicht und Ehre aber konnte Mut erwachsen, Mut, der gebraucht wurde um zu tun, was getan werden musste.
MacNeil stöhnte laut auf und wandte sich mit einem Ruck vom Anblick des riesigen Auges ab. Er kehrte ihm den Rücken und drückte sein Gesicht an den kalten, unnachgiebigen Fels der Höhlenwand. Sein Herz raste. Er keuchte so heftig, als wäre er in voller Rüstung eine Meile weit gerannt. Schweiß rann ihm von der Stirn und brannte in den Augen. Verstand und Seele drohten verloren zu gehen, und das war ihm bewusst. Er zitterte am ganzen Körper und ballte die Hände zu Fäusten zusammen. Er zwang sich zu gleichmäßigen, tiefen Atemzügen.
Wieder ein wenig ruhiger geworden, drehte er sich von der Höhlenwand weg. Der grelle silberne Glanz traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht, aber die gebieterische Stimme meldete sich nicht mehr. MacNeil wusste, warum. Er hatte sich ihr verschlossen. Zur Seite blickend, sah er, dass Hammer und Jack immer noch wie verzaubert in das strahlende Auge starrten.
Vogelscheuchen-Jack rief die Bäume zu Hilfe, doch deren Antwort blieb aus. Er hatte sich allzu weit von seinem Wald entfernt. Hier befand er sich in der Domäne des Biests. Seine donnernde Stimme hallte durch seinen Kopf, überlagerte alle Gedanken und Erinnerungen. Jack brauchte die Kraft der Bäume. Er griff mit allen Sinnen aus, kämpfte energisch gegen die Stimme des Ungeheuers an und versuchte stattdessen, Zwiesprache mit den Bäumen zu halten. Der Wald war immer noch für ihn da; er breitete sich auf weiter Flur über der Höhle aus und stand ihm mit all seiner uralten Kraft zu Diensten.
Soeben erst erwacht, war das Biest noch matt und träge. Doch seine Stimme dröhnte schon unerträglich tief. Jack bot all seinen Widerwillen auf, brüllte ihr sein Nein entgegen und griff ein letztes Mal aus. Endlich hörten ihn die Bäume und liehen ihm ihre Kraft. Sofort verlor das Biest den Zugriff auf seinen Verstand. Er schüttelte ihn ab wie einen bösen Traum und atmete befreit auf. Eiskalte Luft füllte seine Lungen und machte ihn hellwach. Er sah, wie nahe er am Abgrund stand und wich schnell zurück.
MacNeil nickte ihm zu, bemerkte aber, dass er noch zu benommen war, um mit ihm zusammen Hammer unter die Arme zu greifen. Dessen Gesicht war zu einer entsetzlichen Fratze verzerrt und die Hände hielten krampfhaft das Langschwert umklammert, doch er konnte sich vom Anblick des riesigen Auges nicht losreißen. Das Biest hielt ihn in seiner Gewalt. MacNeil fluchte leise vor sich hin und straffte die Schultern. Er musste Hammer das Infernaleisen abnehmen, bevor es dem Biest zufallen konnte. Gegen es, das nun erwacht war, hatte MacNeil nur noch mit dem Höllenschwert eine Chance. Er rückte auf Hammer zu und streckte die Hand aus, um nach dem Schwert zu greifen.
Hammer wirbelte herum und ließ die lange Klinge auf ihn einschwingen. MacNeil tauchte im letzten Augenblick darunter weg, spürte noch den Luftsog durch seine Haare fahren. Das Schwert traf vor die Felswand und blieb darin stecken. Und ehe Hammer es wieder freibekommen konnte, war ihm Jack von hinten in den Arm gefallen.
MacNeil eilte hinzu, sah aber, dass sich Hammers Gesicht entspannt hatte und bar jeder Regung war. Hammer hatte seinen letzten Kampf verloren; durch seine Augen blickte nun das Biest. Er versuchte sich mit aller Macht aus Jacks Klammergriff zu befreien, doch in dessen Armen wirkte die Kraft der hohen Bäume. Dagegen kam Hammer einfach nicht an. MacNeil versetzte ihm einen wuchtigen Fausthieb in den Bauch, worauf ihn der Bandit nur ungerührt anstarrte. Er legte all seine Kraft in den Versuch, das Langschwert zu heben. MacNeil schlug ein zweites Mal zu, so fest er konnte - und auf die Kinnspitze gezielt. Doch Hammer zeigte keine Wirkung. Auch nicht auf die nachfolgenden Hiebe. Er überging sein Gegenüber, und obwohl von Jack fest umklammert und zurückgehalten, gelang es ihm, das Langschwert langsam, Stück für Stück, zu heben.
»Tu doch was!«, keuchte Jack. »Ich kann ihn nicht mehr lange halten.«
MacNeil hob sein Schwert und schlitzte kurz entschlossen Hammers Kehle auf. Blut spritzte und klatschte vor MacNeils Brust und Arme. Doch der Bandit blieb davon scheinbar unbeeindruckt. Er kämpfte noch, als ihm schon alle Farbe aus dem Gesicht gewichen war und der Blutstrom allmählich versiegte. Schließlich hörte er auch zu atmen auf, blieb aber dennoch aufrecht stehen, hielt das Infernaleisen gepackt und versuchte immer weiter, sich aus Jacks Umklammerung loszureißen. MacNeil traute seinen Augen kaum, als sich Hammer tatsächlich löste und Jack zurückstieß. Der stolperte und stürzte - zu seinem Glück, denn Hammer hatte sich umgedreht und mit dem Langschwert nach ihm geschlagen, das nur um Haaresbreite sein Ziel verfehlte.
MacNeil stieß einen Schrei aus und stampfte mit dem Fuß auf, um Hammers Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der tat ihm den Gefallen. Seine Brust war blutüberschwemmt, doch die entseelten Augen folgten jeder Bewegung des Gegners, ohne mit der Wimper zu zucken.
Hammer war von dem Biest besessen.
MacNeil wich langsam über den schmalen Sims zurück. Er hütete sich davor, die eigene Waffe mit dem Wolfsfluch zu kreuzen. Das Eisen würde durch seine Klinge fahren wie durch Papier. Aber weiter zurückzuweichen kam auch nicht infrage. Hammer würde entweder irgendwann attackieren oder kehrtmachen und auf Jack losgehen. MacNeil wusste immer noch nicht, wie er sich nun entscheiden sollte, als er sah, wie sich Jack geduckt von hinten an Hammer heranpirschte. MacNeil hatte die Lage schnell begriffen. Er nahm sein Schwert in beide Hände und stürmte, aus vollem Halse schreiend, auf Hammer ein. Um sich gegen den Angriff zu wappnen, wich Hammer einen Schritt zurück und stolperte über Jack, der gehockt hinter ihm kauerte. Hilflos kippte er um. Jack fackelte nicht lange und versetzte ihm einen Stoß, der ihn unweigerlich in den Abgrund schickte. Blitzschnell war MacNeil zur Stelle und hackte mit seinem Schwert auf Hammers rechten Arm ein, als der gerade über die Kante glitt. Die Klinge fuhr durch das Handgelenk, mit dem Ergebnis, dass das Infernaleisen klirrend auf dem Sims zu liegen kam, nach wie vor umklammert von der abgetrennten rechten Hand. Jack und MacNeil sahen Hammers Körper in die Tiefe stürzen und schließlich als kleinen schwarzen Fleck im grellen Licht des Riesenauges verschwinden.
An die Felswand gelehnt, schnappten beide nach Luft. MacNeil fühlte sich schwindelig und wie betäubt im Kopf; die Beine zitterten vor Erschöpfung, doch noch war ihm, wie er wusste, keine Pause vergönnt. Er blickte auf das Infernaleisen, das glühend vor ihm auf dem Felssims lag. Langsam löste sich Hammers Hand vom Heft.
»Und was tun wir jetzt?«, raunte Jack mit heiserer Stimme.
»Jetzt töte ich das Biest«, antwortete MacNeil.
Jack schaute in das große starrende Auge hinab und richtete dann den Blick zurück auf den Wolfsfluch.
Erschaudernd wurde ihm klar, was MacNeil plante. »Könntet Ihr Euch das denn nicht ersparen?«
»Nein«, erwiderte der Ranger. »Das ist meine Aufgabe, meine Pflicht.«
Jack betrachtete ihn eine Weile. Dann nickte er kurz mit dem Kopf und sagte: »Ihr seid ein tapferer Mann, Sergeant. Viel Glück.«