Es hatte zu schneien aufgehört, und die Wolken teilten sich gerade weit genug, um den Mond zu zeigen, der voll und rund am nachmittäglichen Himmel aufging. In der Luft hing der Geruch von Ozon, der einen schweren Wintersturm ankündigte.
Ich überquerte den Rasen. Als wir noch klein waren, durften Rhiannon und ich nicht allein in die Klamm hinabsteigen, aber wir schafften es immer, uns davonzustehlen, ohne erwischt zu werden. Ich vermutete, dass meine Tante es immer gewusst, aber nie etwas gesagt hatte.
Das Gebiet hatte keinen offiziellen Namen. Die Furche wand sich gute zwanzig Meilen durch das Vorgebirge der westlichen Cascades, die sich am anderen Ende von New Forest, Washington, erhoben.
Grieve hatte das Dickicht den Goldenen Wald genannt, aber in meiner Vorstellung war es der Spinnenhimmel. Im Frühling, Sommer und Herbst hingen weiße und goldene Radnetzspinnen zuhauf im Dickicht und spannen ihre Netze von Ast zu Farn zu Busch, und die dichten, klebrigen Fallen wurden Fliegen, Mücken und der einen oder anderen Libelle zum Verhängnis.
Ich rammte meine Fäuste in die Taschen meiner Jeans, als ich an den Rand des Gartens kam und zum Haus zurückblickte. Rhiannon saß im Wohnzimmer an Heathers Tisch und sprach in den Hörer. Ich runzelte die Stirn. Irgendwie gefiel es mir überhaupt nicht, dass ich sie von hier aus so deutlich erkennen konnte; ich kam mir vor wie ein Jäger, der durch das Zielfernrohr das Wild beobachtete.
Ich holte tief Luft, um das Gefühl abzuschütteln, und näherte mich der Kante zur Klamm. Meine Stiefel knirschten im Pulverschnee. Adlerfarn und Brombeersträucher verdichteten sich immer mehr, und der Venushaarfarn war fast halb so hoch wie ich. Die Geräusche klangen zunehmend gedämpft, als ich in den Schutz der hohen Tannen trat. Ich stieß den Atem aus und sah mich um. Nichts sprang aus den Schatten auf mich zu oder rannte hinter mir her. Ich machte noch einen Schritt und noch einen.
Dämmriges Licht drang durch die Baumwipfel und warf ein unheimliches Schattenspiel auf Stämme und Blätter. Meine Schritte knirschten, als ich den überwachsenen Pfad abwärtsstolperte und hinunter ins Herz der Klamm vordrang. Wieder hielt ich inne, schloss die Augen, lauschte.
Zunächst hörte ich nur das Trippeln und Rascheln kleiner Tiere, die durch das Unterholz huschten, das Lied eines Vogels, das in der kalten Luft widerhallte. Nach einem Augenblick fing ich die Schwingung des Windes ein und ließ meinen Geist schweifen.
Da – Stimmen zu meiner Rechten.
»Grieve?« Ich flüsterte seinen Namen und schickte ihn in den Sog des Windschattens. Es war eine Weile her, dass ich zum letzten Mal versucht hatte, den Wind auf diese Art für mich einzuspannen. In der Stadt gab es wenig Verwendung dafür, aber hier strömte wieder alles auf mich ein.
Ich wartete einen Moment lang, dann flüsterte ich erneut seinen Namen. »Grieve, bist du da? Bist du noch da?«
Nicht so ungeduldig. Grieves Stimme erklang in meiner Erinnerung. Lass dir Zeit. Du versuchst es zu krampfhaft. Ich weiß, dass es schwer ist, Geduld zu haben, wenn man jung ist, aber du brauchst diese Fähigkeiten, Cicely. Du wirst sie brauchen, wenn du erwachsen bist.
Er hatte es gewusst, dachte ich. Er hatte gewusst, dass ich bald gehen würde, und er hatte versucht, mich vorzubereiten.
Also wartete ich. Und dann erhob sich langsam der Wind und trug die Laute eines Streits zu mir. Und ehe ich michs versah, standen zwei Männer neben mir.
Mein Herz hämmerte in meiner Brust, und am liebsten wäre ich in Tränen ausgebrochen. Es war so lange her, so viele Jahre, und doch war er hier. Grieve … es ist Grieve. Und Chatter stand neben ihm, beide genauso umwerfend und faszinierend, wie ich sie in Erinnerung hatte.
Grieve und Chatter hatten olivfarbene Haut und schräge Augen, und ihr Kinn war spitz und schmal, als hätte man Haut und Gewebe straff um den Kopf gezogen. Grieve hatte dichtes platinblondes Haar, das wellig über seinen Rücken fiel, während Chatter, der etwas Stämmigere der beiden, sein rabenschwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst hatte. Sie trugen enge, gut sitzende Camo-Jeans und lange Staubmäntel.
Aber etwas war anders. Während Chatters Augen noch immer hellblau in der Farbe der Kornblumen leuchteten, hatten sich Grieves Augen verändert. Sie waren dunkel geworden – nichts Weißes war mehr zu sehen, auch keine Pupillen, die Iris war ein glänzender Kreis aus Ebenholz. Doch anders als bei Vampiren, bei denen nur tintige Schwärze zu sehen war, funkelten in Grieves Augen weiße Sterne. Wie bei der Frau in Rhiannons Vision.
»Grieve, was ist mit dir geschehen?« Mein Flüstern durchschnitt die Stille, und mein Herz pochte noch immer zu laut in meiner Brust. Als ich einen Schritt auf ihn zugehen wollte, zischte Ulean in mein Ohr, um mich aufzuhalten.
Sei auf der Hut, sei vorsichtig.
Ich hielt inne, stimmte mich auf die Frequenz der Energie ein und taumelte. Grieve hatte etwas an sich, an das ich mich nicht erinnerte, eine spürbare Arroganz. Chatter weniger. Aber Grieve schien wachsam, fast schon feindselig.
Ich hielt den Atem an. Am liebsten hätte ich mich in seine Arme geworfen, beherrschte mich aber und nickte beiden nur leicht zu. Gib dich locker. Bleib zunächst an der Oberfläche.
»Ich bin wieder da, Jungs, ich bin zu Hause. Und bleibe. Habt ihr mich vermisst?«
Chatter brach zuerst das Schweigen. Er streckte mir die Arme entgegen und zog mich an sich.
»Cicely, Liebes. Natürlich haben wir dich vermisst. Der Wind hat uns geflüstert, dass du wieder zurück bist.« Er roch nach Gras und Himbeeren, und seine Umarmung war wie frische Bettwäsche in einer kalten Nacht.
»Aber du solltest nicht hier sein. Nicht jetzt. Du musst den Wald verlassen«, flüsterte er so leise, dass ich den Eindruck hatte, nicht einmal Grieve konnte ihn hören. »Bevor die Dunkelheit kommt, solltest du zu deiner eigenen Sicherheit von hier verschwinden.«
Ich trat einen Schritt zurück, um ihm in die Augen zu schauen. Er wirkte angstvoll.
»Chatter, du hast mir gefehlt.« Ich wandte mich zu Grieve um und zögerte, bevor ich weitersprach. »Und du auch.« Bitte, o bitte, weise mich nicht zurück.
Aber Grieve kam mir weder entgegen, noch breitete er die Arme aus, wie Chatter es getan hatte. »Du bist also zurück.« Ein Hauch Misstrauen lag in seiner Stimme, er wirkte verärgert. »Ich dachte, du wärst fertig mit mir. Mit New Forest. Das hast du beim letzten Mal jedenfalls gesagt.«
»Das habe ich wohl verdient«, gab ich zurück, gekränkt, obwohl mir klar war, dass er ein Recht darauf hatte, wütend zu sein. Ich bohrte die Schuhspitze in den Boden. »Bist du denn so unglücklich, mich zu sehen?«
Er trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. »Du musst gehen. Du musst aus dem Wald verschwinden. Sofort. Und halte dich vor allem bei Nacht fern.« Doch während er mich betrachtete, erhellte sich sein Gesicht, und seine Zungenspitze erschien und leckte sich einen Mundwinkel.
Ich war verwirrt und wusste nicht, was ich davon halten sollte, aber mein Körper übernahm, und Lust stieg in mir auf, als ich sah, wie seine vollen Lippen sich zur Andeutung eines Lächelns verzogen. Allein sein Anblick weckte in mir das Bedürfnis, nach ihm zu greifen und … Berühre mich, nimm mich, fühle mich, halte mich. Mein Wolf stieß ein tiefes, hungriges Knurren aus.