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            Grieve hatte sich vor Jahren in mein Herz eingepflanzt, und die Wurzeln waren stark. Seine Zurückweisung tat mir weh, obwohl ich wusste, dass ich die Schuld daran selbst trug.

            »Wenn ich so unwillkommen bin, warum sorgst du dich dann um mich?« Ich verschränkte die Arme. »Du weißt, dass ich ganz gut auf mich selbst aufpassen kann.«

            »Du bist diejenige, die sich sorgen sollte, Cicely«, sagte Grieve und verengte die Augen zu Schlitzen. Der Wind trug die Andeutung einer Drohung heran, und ich musterte ihn wachsam. O ja, und wie Grieve sich verändert hatte!

            Zeig niemals Furcht, wenn du nicht sicher bist, ob du es mit Freund oder Feind zu tun hast. Lektion Nummer neunundzwanzig von Onkel Brody, einem alten Schwarzen in dem ersten Wohnheim, in dem wir untergekommen waren, nachdem wir New Forest verlassen hatten. Ich war dem alten Knacker noch immer dankbar. Sein Mahnungskatalog war mir in dem Leben, zu dem meine Mutter mich gezwungen hatte, von unschätzbarem Wert gewesen.

            »Ich bin keine sechs mehr und zu alt, um als Wechselbalg entführt zu werden.«

            »Darüber macht man keine Scherze. Nicht hier und jetzt.« Langsam griff Grieve nach meiner Hand. »Jetzt bist du wirklich erwachsen. Und schöner noch als das letzte Mal, als du auf Besuch zu Hause warst.« Sein Blick war wie glühende Kohlen auf meiner Haut.

            »Diesmal bin ich gekommen, um zu bleiben, Grieve. Marta ist tot, und ich übernehme ihr Geschäft.«

            Ich erstarrte und musste mich zum Atmen zwingen, als Grieve meine Hand an die Lippen führte und jeden einzelnen Finger sacht küsste – so hauchzart, als striche Seide darüber. Behutsam drehte er meinen Arm, so dass meine Handfläche nach oben zeigte, und legte seine Lippen auf mein Handgelenk. Ich schloss die Augen und gab mich seiner Liebkosung hin. So gut konnte ich mich an diese Berührung, an diese Lippen erinnern.

            Doch noch war ich auf der Hut, und ich schlug die Augen wieder auf. Grieves düsteres Lächeln wurde unterstrichen von Grübchen, die weder schelmisch noch freundlich wirkten. Seine scharfen, schimmernd weißen Zähne strahlten im Zwielicht des Waldes, und ich sah zu, wie er mit Reißzähnen, die mir bisher noch nie aufgefallen waren, zwei dünne rote Striemen auf meiner Haut hinterließ.

            Was sollte der Blödsinn? Wollte er mich beißen?

            Die Striemen schwollen leicht an, und Hitze schoss von den Wunden durch mein Blut. Mir wurde schwindelig, als würde ich krank; fast fühlte es sich an wie das eine Mal, als ich versehentlich Thunfisch gegessen und einen allergischen Schock erlitten hatte.

            Doch während sich die Hitze pulsierend in mir ausbreitete, konnte ich nur noch daran denken, wie es wohl wäre, wenn er seine Zähne in mich schlüge und nie wieder losließe. Gesunder Menschenverstand rang mit den Empfindungen meines Körpers. Ich schüttelte den Kopf, um meine Gedanken zu klären, und der Zauber fiel von mir ab.

            Chatter schüttelte entgeistert den Kopf. »Grieve, bitte … nicht sie!« Er trat vor, blieb aber stehen, als Grieve eine Hand hob. »Grieve, das ist unsere Cicely!«

            »Schsch. Du redest zu viel.« Er hatte seinen Blick kein einziges Mal von mir genommen, und weil ich nicht wagte, mich zu rühren, verharrte ich stumm, als Grieve seine Hand zu meinen Lippen hob.

            Er zeichnete meine Lippen nach, und ich öffnete sie zögernd. Als er einen Finger ein winziges Stück hineinschob, konnte ich nicht widerstehen und kostete ihn. Unglaublich süß, wie gezuckerte Datteln, aber doch anders, als ich in Erinnerung hatte. Ich versuchte zurückzuweichen, aber er packte mein Handgelenk und hielt es fest, während er mir in die Augen starrte.

            Ulean streifte mich im Wind. Verlier dich nicht an ihn. Du bist hier nicht sicher. Wach auf und bleib wachsam.

            Ihre plötzliche Berührung war wie ein Stich auf meiner Haut und klärte meine Gedanken abrupt. Ich zwang mich zur Konzentration. »Grieve, lass mich los. Sofort.«

            Er zog die Brauen zusammen, und ein böser Ausdruck huschte über sein Gesicht, aber er gab nach. Ich wich zurück und sprang auf einen toten Baum, fegte den Schnee weg und hockte mich hin, das Kinn in die Hände gestützt, die Ellbogen auf die Knie. Über zwei Dinge war ich mir im Klaren: Grieve hatte sich verändert, und ich begehrte ihn noch immer, verändert oder nicht. Am liebsten hätte ich mich jetzt und hier in seine Arme geschmiegt.

            Als ich mich wieder stark genug fühlte, setzte ich neu an: »Was ist eigentlich los, Jungs? Was passiert hier draußen?«

            Als Grieve den Kopf schüttelte, schwand der finstere Blick. »Geh, Cicely. Du darfst nicht in dieser Stadt bleiben.«

            Chatter meldete sich ebenfalls zu Wort. »Es ist schlimm. Wir haben in den vergangenen Jahren so vieles verloren –«

            »Still«, sagte Grieve, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Chatter klappte den Mund zu und senkte zerknirscht den Kopf. Ich erhaschte einen Blick auf blaue Flecken in seinem Nacken, die wie Daumenabdrücke wirkten. Bitte sag mir, dass nicht Grieve das gewesen ist … Aber ich schwieg. Ich hätte es nicht ertragen können, wenn Grieve seinen Freund misshandelt hätte.

            Dennoch musste ich herausfinden, weshalb sie so miteinander umgingen. Grieve war ein Prinz am Hof von Schilf und Aue, Neffe von Lainule, der Königin. Chatter war sein Cousin, doch nicht von Adel. Grieve hatte immer schon gern das Sagen gehabt, war aber dabei stets fair geblieben. Nun umgab ihn eine Aura gesteigerter Autorität, die mich nervös machte. Und Chatter, der stets jovial gewesen war, warf ständig hastige Blicke über die Schulter und erinnerte mich an einen geprügelten Hund.

            »Leute sind tot, das wisst ihr, nicht wahr? Die Mitglieder der Dreizehn-Monde-Gesellschaft sterben oder verschwinden. Marta hat man die Kehle herausgerissen. Und Heather, meine Tante, wird vermisst.« Während ich sprach, zwang ich mich, Grieve unverwandt anzusehen.

            Chatter warf Grieve einen Blick zu, doch der schüttelte nur den Kopf.

            Nach einem Moment des Schweigens hob Grieve wieder an. »Ich werde dir jetzt etwas sagen, und zwar nur dieses eine Mal. Und ich tue es nur, weil ich dich einmal geliebt habe. Sag deiner Cousine, dass es in ihrem eigenen Interesse ist, wenn ihr verschwindet. Verlasst die Stadt. Dieser Wald – ganz New Forest – wird nun von Myst, Fürstin der Verwüstung, Königin des Indigo-Hofs, beherrscht. Jedes Wissen, das darüber hinausgeht, wird dir nicht bekommen.«

            Weil ich dich einmal geliebt habe. Ich schwankte, aber ich versuchte, die Fassung zu bewahren. Ich hatte geahnt, dass er wahrscheinlich nicht auf mich warten würde, aber es bestätigt zu wissen traf mich wie ein Fausthieb in die Eingeweide. Und dann wurde mir bewusst, dass er vom Indigo-Hof gesprochen hatte, und mir wurde eiskalt. Was hatte Grieve mit Rhiannons Vision zu tun?

            »Grieve, ich werde bleiben. Du hast mir gefehlt. Und ich brauche deine Hilfe.«

            »Wenn du bleibst, bekommst du etwas Schlimmeres als meine Hilfe«, verspottete er mich.

            Tränen brannten in meinen Augen, aber ich wischte sie wütend weg. Er würde mich nicht zum Weinen bringen. »Willst du mir drohen?«