Grieve hatte sich verändert. Seine Augen verfolgten mich noch immer, und ich verstand einfach nicht, was passiert sein mochte. Und er hatte den Indigo-Hof erwähnt. Am schlimmsten jedoch war der Stachel seiner Zurückweisung. Würde er mir je vergeben? Und noch wichtiger: Würde ich diesen neuen Grieve, der viel grausamer und ruppiger zu sein schien, lieben können? Würde ich es denn überhaupt wollen?
Wir machten uns auf den Weg, um den Anwalt im Diner zu treffen, und wir nahmen Favonis, da Rhiannon zu aufgewühlt zum Fahren war und Leo gern einmal in meinem Pontiac GTO unterwegs sein wollte. Unter anderen Umständen hätte mich das zum Lächeln gebracht, aber nach allem, was heute schon passiert war, war mir eigentlich nicht nach einem Fantreffen für Autoliebhaber.
Als wir auf den Parkplatz einbogen, sah ich mich nervös um, aber ich konnte keine mysteriösen Wesen ausmachen. Gestern Abend war ich hier um mein Leben gelaufen, heute war es ruhig und wirkte fast friedlich.
Nacheinander betraten wir das Restaurant, und Rhiannon nickte einem Mann Mitte vierzig in einer der Nischen zu.
Er trug Anzug und Krawatte und wirkte sehr gepflegt, aber ich hatte den Eindruck, dass er es kaum erwarten konnte, zu Hause in Jeans und T-Shirt zu schlüpfen. Vor ihm stand statt der obligatorischen Tasse Kaffee ein Milchshake, und er hatte außerdem ein Stück Apfelkuchen mit Sahne bestellt. Irgendwie ließen ihn Erdbeershake und Kuchen weniger eindrucksvoll aussehen.
Wir setzten uns an seinen Tisch.
»Tag. Wie geht’s Ihnen? Jim Fischer.« Der Anwalt hielt mir seine Hand hin, und ich schüttelte sie. Nichts Besonderes, nur warm, fest, kräftig. Die Art von Händedruck, die Zuversicht und Sicherheit ausstrahlte.
»Cicely Waters. Mir geht’s gut, danke.«
Schon stand Anadey mit Speisekarten und Kaffee an unserem Tisch. Ich war die Einzige, die ihre Tasse umdrehte, und mir fiel auf, dass sie auch Sahne mitgebracht hatte.
»Nehmt euch ruhig Zeit, in die Karte zu schauen«, sagte sie, »falls ihr nicht schon wisst, was ihr wollt. Cicely, schön, dich wiederzusehen.«
»Du wusstest, wer ich bin?«, fragte ich überrascht. Warum hatte sie denn nicht schon gestern zu erkennen gegeben, dass sie sich noch an mich erinnerte?
»Aber ja. Du sahst jedoch so müde aus, dass ich dich nicht in ein längeres Gespräch verwickeln wollte. Also, was darf ich euch bringen?«
Ich reichte ihr die Karte zurück. »Hühnersuppe und Käsetoast. Ohne alles, und bitte achte darauf, dass kein Fisch in die Nähe meiner Mahlzeit kommt.«
Leo und Rhiannon bestellten Hamburger und Pommes frites, und Anadey gab unsere Bestellung an Peyton weiter, die den Kopf aus der Küche steckte und uns zuwinkte.
»Sie hat’s früher nicht leicht gehabt, das Mädchen«, bemerkte Rhiannon.
»Wieso? Ihre Mutter wirkt doch sehr nett.«
»Und Martas Tochter ist auch nett« sagte Jim. »Aber Peytons Vater war ein Werpuma. Und einige Werwesen – vor allem die wölfischen – akzeptieren keine Magie unter ihresgleichen. Peyton ist als Kind von den Werwölfen grausam gehänselt worden. Der Lupa-Clan hat sich besonders hervorgetan.«
»Und Sie waren Martas Anwalt? Sie kommen mir ziemlich jung vor.« Ich hatte irgendwie einen älteren Herrn erwartet.
»Marta hat mir vor etwa zehn Jahren ihre Angelegenheiten anvertraut, als ich gerade zu praktizieren begonnen hatte. Warum, hat sie mir nie gesagt, aber ich lernte schnell, nicht nachzufragen. Anadey ist Martas ältestes Kind. Sie hatte noch einen Sohn, der vor ein paar Jahren gestorben ist. Seine Witwe hat die Stadt verlassen, aber Martas Enkel, Tyne, ist Mitglied der Dreizehn-Monde-Gesellschaft.«
»Zumindest das wusste ich.«
»Jim hat recht«, sagte Anadey, die den Rest unseres Gesprächs mitgehört hatte, als sie nun mit mehr Kaffee und Cola für Rhiannon und Leo zurückkehrte. »Dummerweise sind Tyne und Mutter nie einer Meinung gewesen. Sie hat ihn von ihrem Familienerbe ausgeschlossen. Er ist dickköpfig und hat sich mit jeder Frau im Zirkel angelegt.«
»Aber er ist dennoch Mitglied der Gesellschaft?«
»Ja, und letztlich hat er sich Mutter gebeugt, wie es sich gehörte, aber es gab immer Streit vorher. Mutter sagte, dass sie mit ihrem Zank mehr Zeit vergeudet hätten, als sie tatsächlich nachher für die Arbeit brauchten.«
Mir drängte sich der Gedanke auf, dass er vielleicht etwas mit Heathers Verschwinden zu tun haben könnte, denn wenn er keine Frauen in der Gesellschaft wollte, dann konnte es durchaus sein, dass er Martas Tod als Chance für seinen Aufstieg betrachtete, aber diese Überlegung behielt ich lieber erst einmal für mich. Ich würde später mit Rhiannon darüber reden.
»Ich habe Jim gebeten, sich hier mit euch zu treffen, weil ich dir damit versichern wollte, dass es für mich in Ordnung ist, wenn du Mutters Geschäft übernimmst.« Anadey hielt ihre Hand hoch. »Einen Moment bitte.« Sie rief die andere Kellnerin. »Jenny, übernimm du bitte für mich, und stell Rob an den Grill. Peyton und ich machen ein paar Stündchen frei.«
Ich starrte Anadey an. Sie klang so aufrichtig, dass ich ihr glauben musste. »Bist du wirklich sicher? Ich will dir nichts von deiner Mutter nehmen. Herrgott, ich kannte sie ja noch nicht einmal richtig, wir haben uns höchstens im Vorbeigehen gegrüßt, wenn ich zu Besuch in New Forest war.«
Anadey lachte. »Mach dir keine Sorgen. Ich kriege das Haus, und die Göttin weiß, dass Peyton und ich es brauchen, aber ich habe wirklich keinerlei Interesse an dem Geschäft. Du kannst kommen und die Sachen abholen, wann immer du willst. Im Übrigen beharrte Mutter darauf, dass du ihre Arbeit übernimmst. Ich vertraue ihrem Urteil. Das habe ich stets getan, auch wenn wir nicht immer einer Meinung waren. Und daher vertraue ich auch darauf, dass du die Richtige bist. Du weißt ja sicher, dass du jetzt automatisch Mitglied der Gesellschaft bist, nicht wahr? Obwohl von der Ortsmitgliedschaft nicht mehr viel übrig geblieben ist. Ich würde vorschlagen, dass du wieder ganz von vorn anfängst, und ich fürchte, dass du dazu jedes bisschen von dem, was sie dir hinterlassen hat, brauchen wirst. So, wie die Dinge in dieser Stadt im Augenblick stehen.« Ihr Gesichtsausdruck ließ vermuten, dass sie mehr sagen wollte.
»Was weißt du?«
»Ich weiß, dass deine Tante verschwunden ist. Ich weiß, dass die Gesellschaft systematisch dezimiert wird. Die Energie dieser Stadt hat sich verändert, Leute verschwinden, und mir behagt ganz und gar nicht, was der Wind in unsere Richtung bläst. Aber wenn ihr mich einen Moment entschuldigen wollt: Ich muss noch kurz ein paar Dinge mit meinem Personal klären, dann sind Peyton und ich sofort zurück.«
Sie ging, und sobald sie außer Hörweite war, sagte ich: »Das verstehe ich nicht. Warum hat Marta ihr Geschäft nicht ihrer Tochter hinterlassen? Oder ihrem Enkel? Sie sind beide magiegeboren. Das ergibt doch keinen Sinn.«
Jim antwortete mir. »O doch, Cicely. Marta wusste etwas. Wir sind uns nicht sicher, um was es sich handelt, aber sie hat ihr Testament vor ungefähr zwei Monaten geändert. Anadey war bei ihr und hat allen Änderungen zugestimmt. Tyne war ziemlich angefressen deswegen, aber da er nicht ihr direkter Angehöriger ist, konnte er schlecht in Frage stellen, was Martas Tochter bereits akzeptiert hatte.« Er zog einige Papiere aus der Aktentasche. »Hier sind die Unterlagen. Marta hat mir genug Geld überwiesen, damit ich für Sie eine neue Akte anlegen und Sie als Besitzerin eintragen lassen kann. Sie müssen nur abholen, was da ist. Ich kann einen Gewerbeschein ausstellen, sobald ich Ihre Daten habe.« Nun holte er ein Scheckbuch hervor und reichte es mir. »Das ist das Geschäftsbuch. Ich habe die Änderungen bereits eingetragen. Ich brauche Ihre Unterschrift auf diesem Formular als Bestätigung und als Signaturbeleg, dann reiche ich alles der Bank wieder ein, und Sie verfügen über ein Geschäftskonto.« Er legte mir die Papiere hin und gab mir einen Stift.