Heather lachte. »O Cicely, du bist vielleicht allein unterwegs und inzwischen schon sechsundzwanzig, aber du bist eine von uns. Und das warst du immer, auch wenn deine Mutter versucht hat, dich uns zu entfremden. Es ist Zeit, nach Hause zu kommen.« Ihre Stimme klang nun sehr ernst. »Krystal ist tot. Du musst nicht mehr weglaufen. Komm zurück. Wir brauchen dich. Ich brauche dich. Und du … du brauchst uns.«
Sie hatte recht. Tief in meinem Inneren wusste ich, dass es Zeit für mich war, nach Hause zurückzukehren. Jahrelang war ich immer in Bewegung gewesen, aber nun gab es keinen Grund mehr dazu. Eigentlich hatte ich seit zwei Jahren – seit Krystals Tod – schon keinen Grund mehr, dieses Nomadenleben weiterzuführen, wenn ich nicht manchmal das Gefühl gehabt hätte, das Leben auf der Straße sei alles, was ich wirklich konnte. Doch jetzt hatte Marta mir ihr Geschäft vermacht. Es gab also etwas, zu dem ich zurückkehren konnte. Einen Daseinszweck, der sich nicht mehr darauf beschränkte, meine Mutter und mich am Leben zu halten.
»Ich bin in spätestens drei Tagen da«, sagte ich. »Kann ich das Zimmer meiner Mutter haben?« Erinnerungen an die veilchenblaue und elfenbeinfarbene Einrichtung stiegen in meinem Bewusstsein auf.
»Aber natürlich. Außerdem kannst du das Hinterzimmer für dein Geschäft nutzen und einen der Räume im dritten Stock als Lagerraum und Werkstatt.« Wieder lachte Heather. »O Cicely, du hast mir so gefehlt. Ich freue mich sehr, dass du nach Hause kommst, und diesmal nicht nur auf einen kurzen Besuch. Wir haben dich vermisst.«
Und so nahm ich meinen Rucksack und packte die wenigen Kartons, in denen meine Habe steckte, in Favonis – meinen marineblauen Pontiac GTO Baujahr 1966, den ich beim Würfeln gewonnen hatte – und verließ Kalifornien ohne einen einzigen Blick zurück.
L.A. war wie jede andere Stadt, in der ich seit meinem sechsten Lebensjahr gewesen war: ein Zwischenstopp auf der holprigen Reise, die mein Dasein bisher dargestellt hatte. Doch nach zwanzig Jahren unterwegs würde meine Vergangenheit wieder meine Zukunft sein. Ich trat das Gaspedal durch, und Favonis brauste schnurstracks die Interstate 5 in den Norden hinauf.
Ich trug eine schwarze Jeans, ein schwarzes Tanktop und meine besten Stiefel – rattenscharfe Icon-Bikerboots. Eine feste Anstellung besaß ich nicht; ich hatte, seit ich zwölf war, immer wieder verschiedene Jobs angenommen, aber nichts von Dauer. Die ganze Zeit über hatte ich jedoch immer gewusst, dass es etwas für mich gab – etwas, für das ich bestimmt war –, aber was genau das sein mochte, war mir bisher nicht klar. Vielleicht dieses hier. Vielleicht konnte Martas Hexenerbe die Leere füllen.
»Komm schon, Baby«, murmelte ich aufmunternd. »Lass mich nicht hängen.«
Und Favonis ließ mich nicht hängen. Wie ein sattes, zufriedenes Kätzchen schnurrte sie bis hinauf zur Küste.
Während ich über den Freeway brauste und bei gelegentlichen Stopps bei Starbucks und Espressobars wieder auftankte, suchte mein Blick unablässig nach der Abzweigung auf die I-90. New Forest schmiegte sich an das nordwestliche Vorgebirge der Washington Cascades, und die Aussicht, dieses Mal wirklich nach Hause zu kommen, baumelte vor mir wie die Ampulle mit Crack vor einem Junkie.
Zwanzig Jahre zuvor hatte ich gekreischt und gestrampelt und meine Mutter angefleht, mich bei Heather zu lassen, aber Krystal hatte mich nur angeschnauzt, den Mund zu halten, hatte mich die Treppe vom Haus der Schleier hinuntergezerrt und unten in ein Taxi verfrachtet. Jetzt, nach tausend Meilen und gefühlten tausend Jahren in meinem Herzen, war ich auf dem Weg zurück zu dem einzigen Ort, den ich je als Zuhause betrachtet hatte. Und dieses Mal hatte ich vor, auch zu bleiben.
Nur dass ich inzwischen sechsundzwanzig bin und meine Mutter tot ist. In New Forest stimmt etwas nicht. Und mein Wolf ist wieder erwacht.
Etwa zwanzig Meilen vor der Stadt sah ich erste Fleckchen Schnee, und als ich das Willkommen in New Forest-Schild passierte, lag eine Schneedecke auf dem Boden. Da ich meine Tante so spät nicht mehr einfach so überfallen wollte, bog ich auf den Parkplatz des Starlight 5 Motels ein, stellte den Motor ab und starrte auf das flackernde Zimmer frei-Zeichen. Ich war in New Forest. Ich war tatsächlich zurückgekehrt.
Ich nahm meinen Rucksack, hievte mich aus dem Wagen, stand eine Weile zitternd in der Kälte und lauschte den Luftströmungen, die an mir vorbeirauschten. Etwas stimmte nicht, ich konnte es spüren. New Forest fühlte sich nicht an, wie ich es von früher kannte. Ein Blick über die Straße zeigte mir ein Diner, das die ganze Nacht geöffnet hatte. Die Fenster des Anadey’s waren mit blinkender Weihnachtsbeleuchtung dekoriert. Von meinen Besuchen hier konnte ich mich noch vage an Anadey erinnern: Sie war Martas Tochter, wenn mich meine Erinnerung nicht trog. Warum ausgerechnet sie ein Restaurant führte, machte mich neugierig, aber ich beschloss, mir erst ein Zimmer zu nehmen und dann einen Happen zu essen.
Der Bursche am Empfang des Starlight 5 starrte mich unverhohlen an. »Sie wollen ein Zimmer?«
Ich nickte. »Einzel. Und nur eine Nacht.« Während ich mein Portemonnaie hervorzog, schob er mir das Empfangsbuch hinüber, und ich trug mich ein und warf ihm fünfzig Mäuse in Zehnern auf die Theke. Er zählte die Scheine und nickte, dann hielt er mir einen Schlüssel hin.
»Nummer hundertfünf A. Um zwölf muss es geräumt sein.«
»Ich bin schon früher weg. Haben Sie etwas im ersten Stock?« Ich hatte schon vor langer Zeit erfahren müssen, dass es weiter oben sicherer war.
Er musterte mich erneut, dann gab er mir einen anderen Schlüssel. »Zweihundertzehn B. Nichtraucher, kein Kocher.«
»Kein Problem in beiderlei Hinsicht.«
Ich nahm den Schlüssel und ging hinaus. Das Motelgebäude war wie ein Hufeisen um den Parkplatz gebaut. Ich blickte blinzelnd zur oberen Etage hinauf, bis ich mein Zimmer gefunden hatte, dann trabte ich die Treppe hoch. Als ich aufschloss, brachte die Macht der Gewohnheit mich dazu, meine Umgebung genau zu mustern und mich nach allem umzusehen, was verdächtig sein könnte. Krystal hatte mir eingeschärft, immer auf der Hut zu sein, auch wenn sie ihre gesunde Wachsamkeit im Laufe der Jahre dem Crack und dem Heroin geopfert hatte.
Da niemand in Sicht war, öffnete ich die Tür.
Vorsichtig sah ich mich um. Mittelgroßes Bett, ziemlich klobig. Das Kopfteil mit der Wand verschraubt. Zweckmäßige Spiegelkommode mit Fernseher. Kleines, sauberes Bad, mit dünnen weißen Handtüchern. Ein 08/15-Zimmer in einem Billigmotel. Ich ließ mich aufs Bett fallen, war aber noch zu aufgekratzt von der langen Fahrt, um mich schlafen zu legen. Mein Magen rumpelte, und ich stellte fest, dass ich Hunger hatte. Also nahm ich meinen Rucksack – nie und nimmer würde ich in diesem Laden etwas liegen lassen – und trat hinaus auf den Bürgersteig. Ich wartete, bis die Ampel umsprang, und überquerte die Straße zu Anadey’s Diner.
Im Café herrschte die typische Trucker-Atmosphäre, obwohl es draußen keine Stellfläche für Lkws gab. Die Deckenleuchten spendeten dem langen, schmalen Raum dämmriges Licht. Durch die Lamellen der Jalousien sah man hinaus auf den Parkplatz, und Resopal war das Material der Wahl. An einer Wand reihte sich Nische an Nische, an der anderen erstreckte sich eine lange Theke parallel zur Küche, und die Barhocker waren im Boden verankert.