Auf keinen Fall konnte ich in mein Zimmer fliehen; das jämmerliche Schloss hätten sie im Handumdrehen geknackt. Die bessere Wahl war Favonis. Ich hatte sie für eben solche Situationen mit einer Fernbedienung ausgestattet, die sich an meinem Gürtel befand. Mein ganzes Leben lang hatte ich damit verbracht, mit meiner Mutter dem einen oder anderen Ärger aus dem Weg zu gehen, und im Laufe der Jahre ein paar nützliche Dinge gelernt.
Ich schleuderte die Tüten mit Essen zur Seite, tastete nach dem Schlüsselanhänger an meinem Gürtel und duckte mich in die Schatten, die meinen Wagen umgaben, als hinter mir ein Geräusch die Nacht durchschnitt – ein scharfer Schrei, der erstarb, noch ehe er wirklich erklungen war. Ich wirbelte herum und sah, wie der Kerl aus dem Diner kehrtmachte und wieder zurück ins Licht rannte. Er rutschte auf einer schwarzen Eispfütze aus, richtete sich wieder auf, sprang in einen Pick-up und fuhr mit quietschenden Reifen vom Parkplatz.
Verdattert sah ich ihm hinterher, und während ich noch zu begreifen versuchte, was zum Teufel geschehen war, ertönte ein weiteres Geräusch – ein ekelhaftes Gurgeln –, und der Geruch von Blut schlug über mir zusammen. Ich wich zu meinem Wagen zurück, als sich die Energie erneut verlagerte und die verborgene Kraft, was immer sie auch gewesen war, verschwand.
Sie war fort … genau wie der Mann, von dem der Aufschrei gekommen war.
O Shit – fort? Wohin denn? Er war direkt hinter mir gewesen. Langsam näherte ich mich dem Schatten, in den er eingetaucht war. Der Blutgeruch hing schwer in der Luft, aber als ich mit meiner Taschenlampe auf den Boden leuchtete, sah ich nur wenige Tropfen im Schnee. Ich blickte nach rechts und links: Es gab nichts, wohin er hätte verschwinden können, aber verschwunden war der Kerl definitiv – wenn auch nicht freiwillig.
Ich suchte die andere Straßenseite ab. Nichts.
Was geht hier eigentlich vor, Ulean?
Ich weiß es nicht, Cicely, aber wir sind ja hier, um das herauszufinden.
Wer oder was hat sich den Kerl geschnappt? Vampire?
Ein Zögern. Dann: Nein. Keine Vampire. Gib nicht sofort den Blutfürsten die Schuld. Dies hier … ist viel finsterer, als dass es den Stempel der Vampire tragen könnte. Es ist tödlich, ungezähmt und getrieben von einer Gier, die Vampire nicht einmal annähernd entwickeln könnten.
Verfluchter Mist. Vampire standen an der Spitze der Nahrungskette. Sie waren Raubtiere, die oft gnadenlos vorgingen. Wenn das hier schlimmer war als Vampire, dann wollte ich gar nicht wissen, um was es sich handelte.
Ich sog tief die Luft ein, hob meine Tüte mit Essen auf und stieg die Treppe zu meinem Zimmer hinauf. Ja, New Forest hatte sich in der Tat verändert, und ich hatte das dumpfe Gefühl, dass ich gerade nur die Spitze des Eisbergs gestreift hatte.
2. Kapitel
Am nächsten Morgen blickte ich an dem stattlichen dreistöckigen Anwesen hinauf, das die ersten sechs Jahre meines Lebens mein Zuhause gewesen war. Tief atmete ich ein und schauderte in der Kälte des verschneiten Morgens.
Ich konnte es kaum erwarten, Tante Heather und meine Cousine Rhiannon wiederzusehen. Sie waren meine einzigen Verwandten und wunderbare Menschen. Ich klopfte an die Tür, und Rhiannon öffnete.
Wir hatten uns vor neun Jahren zum letzten Mal gesehen, doch meine Cousine hatte sich überhaupt nicht verändert – sie war einfach nur ein bisschen älter geworden. Sie war groß und gertenschlank und hatte genau wie Tante Heather flammend rotes Haar. Doch ein einziger Blick in ihr Gesicht verriet mir, dass etwas nicht stimmte. Ihre Augen waren rotgerändert und geschwollen, und sie sah aus, als hätte sie schon eine Weile nicht mehr geschlafen. Wir umarmten uns kurz.
»Was ist los?«
Sie schüttelte den Kopf. »Heather ist weg.«
Fuck. Ich war zu spät. »Aber ich habe doch noch vor ein paar Tagen mit ihr gesprochen.«
Ich trat zurück, lehnte mich gegen eine der Säulen der Veranda, und Rhiannon kam zu mir heraus. Sie trug einen voluminösen, flusigen Morgenmantel, und als sie über den Rasen hinweg zum Waldrand blickte, glommen ihre Augen wie zwei Bernsteine.
»Als ich gestern von der Arbeit nach Hause kam, war sie fort. Verschwunden. Als sei sie nie hier gewesen.«
Ich schnitt eine Grimasse. Heather war mir immer mehr Mutter gewesen als meine eigene.
»Hast du die Polizei benachrichtigt?«
»Ja, aber es hat nicht viel genützt. Sie nehmen erst eine Vermisstenanzeige auf, wenn die Person vierundzwanzig Stunden weg ist, und man hat mich zu überzeugen versucht, dass sie bloß vergessen hat, mir zu sagen, dass sie einen Ausflug macht.« Sie presste die Lippen so fest zusammen, dass sie weiß wurden. »Heather hat Tasche und Schlüssel hiergelassen. Und ihr Wagen steht in der Auffahrt. Sie ist da draußen, Cicely.« Sie deutete mit dem Kopf auf den Wald. »Ich weiß es.«
Ich verschränkte die Arme und schauderte, während ich meinen Blick bis zu dem tiefen Graben schweifen ließ, der am Ende der ausgedehnten Rasenfläche abfiel. Das Haus der Schleier – das meiner Tante gehörte – stand auf einem großen Grundstück am Ende der Vyne Street, einer Sackgasse, in der sich kaum andere Häuser befanden. Der Rasen ging in ein Baumdickicht über, das sich an einer Seite in die Klamm hinabzog und auf der anderen Seite wieder anstieg, wo das Dickicht in eine Lichtung mündete. Kiefern und Zedern bildeten ein kompaktes Grün, aber ein Dunst hing wie eine Art Smog über der Gegend, und die Luft fühlte sich staubig an, wie in einem verlassenen Haus, in dem eine Ewigkeit nicht gelüftet worden war.
Ein Windstoß durchfuhr mich, und ich glaubte, ein Knurren zu hören.
Da ist jemand gar nicht glücklich, dass du wieder hier bist. Ulean wirbelte die Luft um mich herum auf, um sie zu einem Mantel aufzubauschen, der sich um meine Schultern legte. Du bist in Gefahr.
Wovon geht die Gefahr aus?
Das weiß ich nicht. Die Energie ist schwer zu lesen, aber die Art ist dieselbe wie die, die wir gestern auf dem Parkplatz gespürt haben. Sie ist tödlich und mächtig, und sie beobachtet dich.
Fuck, dachte ich, als ich meine Lederjacke fester um mich zog.
Mit Gefahr konnte ich umgehen, sofern ich denn wusste, worin sie bestand. Wieder wirbelte ein Windstoß Schnee auf und ließ die Flocken auf die Veranda tanzen. Zu kalt – sogar für Dezember war es hier zu kalt. In New Forest hatte es immer Schnee gegeben, aber nie viel, und er war auch nie lange liegen geblieben.
»Cicely, ich weiß, dass es kalt hier draußen ist, aber meinst du, du könntest vielleicht wahrnehmen, wo sie ist?« Rhiannon lehnte sich an den gegenüberliegenden Stützbalken. »Schon damals, als wir noch klein waren, hattest du große Kräfte. Kannst du im Wind für mich lesen?«
»So groß auch wieder nicht«, gab ich zurück. In meiner Zeit auf der Straße war viel auf der Strecke geblieben. »Aber ich werde es versuchen.« Ich schloss die Augen und konzentrierte mich auf die schneidende Brise, die ums Haus pfiff. Manchmal war es Ulean, die mit mir sprach, manchmal der Wind selbst.
Mit dem Luftstrom kam das Flattern von Schwingen, vereinzeltes Flüstern und Gedanken, das Übliche also. Doch hinter den plötzlichen Böen, dem Aufwallen und Abschwellen, lauerte ein Schatten, der mir Unbehagen bereitete. Es gab Schatten, die Trost und Schutz spenden. Andere stahlen das Licht. Und dieser saugte dem Tag Wärme und Leben aus.