Dann ist es also wirklich wahr – das, was gestern geschehen ist? Ich war eine Eule … und bin geflogen. Eine Flut aus Bildern der vergangenen Nacht hüllte mich ein, führte mich zurück und ließ mich erneut die Freiheit der Lüfte spüren, die gestern auf mich eingeströmt war. Fast wäre ich eingeschlafen hier oben in der schützenden, gemütlichen Wiege des Baumes, und voller Wohlbehagen begann ich zu murmeln.
Wach auf, kleine Eule. Du hast noch weit zu wandern bis zum Ruh’n …
›Der Wald schweigt tief und lockend nun, doch ich hab noch mein Teil zu tun und weit zu wandern bis zum Ruh’n.‹ Ein Gedicht. Du kannst doch nicht etwa lesen, oder? Woher kennst du das?
So vieles kommt durch den Windschatten. Hast du wirklich gedacht, es zieht ungehört an mir vorüber? Es tut mir leid, kleine Eule, dass du zu den blutigen Reißzähnen gehen musst, aber glaub mir, sie sind nicht so grässlich wie das, was im Wald lauert. Und manchmal sind die Ungeheuer so schrecklich schön und die Helden abscheulich. Geh nun und ruh dich aus. Dein Freund wird zurückkommen und dir eine weitere Lektion in der Kunst des Fliegens erteilen, verlass dich darauf. Er wacht über dich.
Meine Augen flatterten auf, und schlagartig war ich wach und fror. Es war Zeit, wieder vom Baum zu steigen.
Ulean ließ sich auf meiner Schulter tragen. Der Baum … ja, er ist alt und weise, wenn auch nicht so alt wie ich. Du kannst ihm vertrauen. So sind sie, die Bäume: Wenn sie einmal Partei ergriffen haben, wechseln sie nur selten die Seiten.
Einen Augenblick später gesellte ich mich wieder zu den anderen, die noch mit den Schutzmechanismen beschäftigt waren, doch während ich mich durch Kräuter und Kristalle arbeitete, waren meine Gedanken meilenweit fort und hoch oben im Dunkel des Himmels.
Um Punkt sieben stand ich in der Vecktor Hall des New-Forest-Konservatoriums vor Lannans Büro. Leo war neben mir, der Wagen, mit dem wir gekommen waren, stand wartend auf der Straße vor dem Gebäude. Nervös, da ich nicht wusste, wie das Ganze ablaufen würde, hob ich den Kopf und klopfte zögernd.
»Herein.« Das Wort hallte durch den Flur, als die Tür lautlos aufschwang. Ich blickte hinein und sah Lannan an seinem Tisch sitzen.
Altos’ Büro war so seltsam widersprüchlich wie der Mann selbst. Das Mobiliar war alt, düster, schwer und handgefertigt, doch in den Regalen stand neueste Technologie, und wie in Martas Haus herrschte auch hier der Eindruck von Minimalismus vor, sobald man über das Basismobiliar hinwegsah. Dennoch erinnerte mich die Atmosphäre an Trauben, die schon ein wenig zu lange an der Rebe hingen.
Die Zimmerflucht war in Burgunderrot und Schwarz gehalten, an einer Wand stand eine große Couch. Darüber hing ein Wandteppich, und als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass auf dem Bild eine Frau von einem Wolf penetriert wurde, während ein Mann masturbierend daneben stand. Schaudernd wandte ich den Blick ab. An einer anderen Wand standen Bücherregale, davor ein reichverzierter Tisch aus Ebenholz. Eine Tür führte in einen weiteren Raum.
Ich blickte mich um, ob noch jemand hier war, aber es war niemand zu sehen. Leo stand noch immer draußen. Lannan warf ihm einen knappen Blick zu und schickte ihn mit einer Geste davon.
»Komm in einer Stunde wieder. Bis dahin sollten wir fertig sein.«
Leo machte den Eindruck, als wollte er alles tun, nur nicht mich allein lassen, aber schließlich ging er doch. Ich holte tief Luft, trat über die Schwelle und wartete darauf, dass Lannan das Wort ergriff.
»Wie ich sehe, hast du deine Kleidung nach Aspekten der Bequemlichkeit gewählt.« Eine Feststellung. »Nächstes Mal ziehst du etwas an, das sexy aussieht.« Ein Befehl.
Oh, toll. Er wollte also das volle Programm. Er war ein Meisterspieler, das konnte ich jetzt schon sagen. Aber ich würde mitziehen. Ich wusste, wann ich eine Schlacht gewinnen konnte und wann nicht.
»Ja, Sir.« Verdammt. Meine Stimme klang wie das Piepsen einer Maus in einem Hörsaal. Ich trat vor seinen Tisch und zwang mich, still zu stehen. Sollte er den ersten Schritt unternehmen.
Lannan sah zu mir auf. Seine dunklen Augen glitzerten. Wenn ich einen Funken darin gesehen hätte, etwas, was menschlich wirkte, dann hätte ich mich vielleicht zusammenreißen können. Doch diese bodenlosen Abgründe sogen mich ein, und ich begann zu zittern, ohne dass ich es verhindern konnte. Er war Vampir, ein Blutfürst, um Himmels willen, und er wollte von meinem Blut trinken.
Er erhob sich von seinem Schreibtischstuhl und kam zu mir. »Was jagt dir denn solche Angst ein? Der Gedanke daran, mir Blut zu geben?« Seine Stimme war leise, so leise, dass ich sie kaum hörte, und er beugte sich zu mir herab und rieb leicht mit der Nase an meinem Hals. »Du bist ein reizendes Ding, und dein Duft füllt diesen Raum aus. Du weißt, dass wir Vampire einen Geruchssinn haben, auch wenn wir nicht atmen müssen?«
Er blieb nah an meiner Schulter, und mein Herz geriet ins Schleudern. Ich verabscheute diesen Mann, und doch war allein seine Nähe wie ein Aphrodisiakum. Obwohl mein Verstand und mein Herz ihn nicht wollten, reagierte mein Körper heftig auf die Pheromone, die er ausdünstete.
»Ach, Cicely, nicht jede Bezahlung muss schmerzhaft sein. Die an mich ist es gewöhnlich, aber vergiss nicht, dass ich es zu einem Vergnügen für dich machen kann – und werde. Blutspenden sind nicht immer eine Qual.« Er hob mein Kinn an. »Keine Angst. In weniger als neunzig Minuten bist du wieder zu Hause bei deinen Freunden und in Sicherheit.«
Aber sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass ich nie wieder dieselbe sein würde.
Lannan ließ mich los, ging zu einer kleinen Musikanlage und schaltete sie ein. Geschmeidige Tonfolgen drangen aus den Lautsprechern und wanden sich um mich, und ihnen folgte ein pulsierender Beat. Er schenkte Wein in ein Glas und reichte es mir. Ich starrte in die Flüssigkeit und wusste nicht, ob ich es wagen sollte.
»Ich muss dich nicht mit einer Droge gefügig machen. Ich kann dich hypnotisieren und mir alles nehmen, was ich will, wenn ich Lust dazu habe.«
Ich erstarrte, und meine Hand mit dem Glas verharrte vor meinen Lippen. Eis, dachte ich. Spiel die Jungfrau aus Eis. Reg dich nicht, bleib in deiner Erstarrung und reagiere nicht. Lass ihn tun, was er will, und dann geh, als sei nichts geschehen.
»Dir ist klar, dass ich vertraglich berechtigt bin, von dir zu trinken, nicht wahr? Du hast dich mir angeboten.« Seine Stimme war sanft. Zu sanft.
Ich schwieg.
»Sag es. Sag mir, dass du es dir selbst so ausgesucht hast. Ich will es von deinen Lippen hören, von deinen vollen, sinnlichen, lebensbejahenden Lippen.«
Wieder Schweigen. Ich starrte die Anlage an und versuchte, mich in der Musik aufzulösen, zu Akkorden zu werden, zur Melodie zu verschmelzen … auf dem Windhauch mit den Noten davonzuschweben. So flüchtig.
»Cicely. Ich befehle es dir.« Und nun war seine Stimme so mächtig, dass ich gehorchen musste.
Ich wandte mich zu ihm um. »Ich gebe Ihnen mein Blut. Es war meine Entscheidung. Ich habe den Vertrag unterzeichnet. Und jetzt tun Sie, was Sie wollen.«
Seine dunklen Augen flammten auf, und er stieß ein kurzes Grunzen aus, als er mich zu umkreisen begann. Ich stand in Habachtstellung da, reagierte jedoch nicht und drehte mich auch nicht mit ihm. Ich schaffte es, mich einigermaßen zusammenzureißen, bis er hinter mir stehen blieb und nah an mich herankam. In diesem Moment setzte die Panik ein.