Was mich unwillkürlich zu der Überlegung führte, was wohl zuerst dagewesen war, Prophezeiung oder Plan? Oder hatte irgendein Vampir-Wissenschaftler diesen Virus entwickelt und so für die Obrigkeit – Crawl oder die Königin selbst – den Boden bereitet, die Prophezeiung zu erfüllen?
Was auch immer, nun waren Grieve und ich tatsächlich die verräterischen Liebenden aus der Najeeling-Prophezeiung. Denn ich wusste aus meiner Verbindung mit Grieve, dass er in diesem Moment schrecklich litt. Und andere Angehörige des Indigo-Hofs würden auch bald leiden, und es gab nichts, was ich dagegen tun konnte – oder tun sollte. In ihre Zentrale zu stürmen, um Grieve zu retten, war gleichbedeutend mit dem Versuch, den Indigo-Hof zu retten, und das durfte ich nicht tun. Nicht einmal aus Liebe.
Langsam hob ich den Kopf und betrachtete Leo und Kaylin. »Zieht euch an«, sagte ich heiser. »Wir werden mit Lainule reden. Wir brauchen ihre Hilfe, und wie es aussieht, bin ich ihr Loyalität schuldig.«
Nachdem wir Rhiannon angerufen und sie gebeten hatten, bei Anadey auf uns zu warten, machten wir uns auf den Weg zum Dovetail Lake. Ich trat Favonis’ Gaspedal durch. Wozu in aller Welt war ich bloß nach Hause gekommen? Das Dasein war trostlos, und ich sah nirgendwo einen Lichtschimmer, auf den ich zugehen konnte. In dieser verschneiten, unglaublich kalten und grellen Welt schien nicht einmal die Sonne.
Als wir den See erreichten, war ich über den Zustand der Niedergeschlagenheit hinaus. Nun war ich wütend, und Wut würde mich weiter bringen als Gejammer. Ich sprang aus dem Wagen, kaum dass ich den Motor abgewürgt hatte, und marschierte so zornig auf das Dickicht zu, dass der Schnee nur so aufwirbelte. Kaylin und Leo folgten in einigem Sicherheitsabstand.
»Lainule! Ich weiß, dass Ihr hier seid!« Ich hielt an und drängte meine Gedanken in den Windschatten. Ich weiß, dass Ihr mich hören könnt, und Ihr wisst, wer ich bin, also kommt jetzt besser heraus, oder ich verbreite überall, dass Ihr noch quicklebendig seid und an einem Parkplatz herumlungert.
Spiel nicht mit ihr, und bedroh sie nicht, Mädchen. Du weißt sehr gut, dass das gefährlich ist.
Das ist mir egal, Ulean. Drei Parteien spielen mit uns, als seien wir Schachfiguren, und ich denke gar nicht daran, mir alle Macht aus den Händen nehmen zu lassen. Wir werden hier wenigstens etwas erreichen, und das ist Peytons Befreiung.
Das Flüstern des Windhauchs wurde zu einer eiskalten Bö, als sich das Schilf teilte. Lainule, flankiert von zwei Männern, die mich an Grieve und Chatter aus alten Zeiten erinnerten, trat aus den Büschen.
»Du wagst es, mich mit Drohungen und in einer solchen Sprache zu rufen?« Ihre Stimme war leise, aber die Kraft darin ließ mich zurücktaumeln. Ich plumpste in Kaylins Arme, und er richtete mich wieder auf.
Lainule mochte in der Nacht wunderschön sein, aber am Tag war ihre Erscheinung blendend. Selbst unter dem zerschlissenen Mantel des Sommers überstrahlte sie alles. Ihre Augen waren vom klaren Blau des Morgenhimmels, und das Haar hatte die Farbe gesponnenen Platins, in das man Bernstein gewebt hatte. Sie betrachtete Kaylin, dann Leo, dann wieder mich.
»Was willst du, Cicely? Und du solltest etwas Wichtiges wollen, wenn du einen solchen Auftritt wagst.« Die Königin teilte das Schilfrohr und forderte uns auf, einzutreten.
Ich zögerte eine Sekunde, dann trat ich hindurch. Kaylin und Leo folgten mir etwas langsamer. Sobald wir durch die Büsche waren, hatten wir den Winter hinter uns gelassen und standen am sommerlichen See. Die Bäume waren voll belaubt, die Sonne schien warm und golden, Eis und Schnee waren fort, und das Wasser bewegte sich sanft in der milden Brise, die über die Oberfläche strich.
»Wir sind … wo sind wir?« Die jähe Veränderung hatte mir den Wind aus den Segeln genommen, und die Sonne, die mich wärmte, brachte mich zum Lächeln. Nach der bitteren Winterkälte fühlte es sich so gut an, dass ich mir eigentlich nur ein schönes Plätzchen suchen, mich hinlegen, schlafen und träumen wollte.
»Du willst mich sprechen, aber ich werde nicht auf dem Parkplatz vom Dovetail Lake herumstehen, wo mich alle Welt sehen kann. Also habe ich euch in mein Reich gebracht. In das, was davon übrig ist.« Sie seufzte tief, und erst jetzt sah ich, dass ihre Augen rot vom Weinen waren.
»Was ist los?«
»Ich bin müde, Kind. Erschöpft und voller Kummer. Aber so ist das nun einmal, wenn man zu den Unsterblichen gehört. Komm, setz dich, ruh dich aus. Hier hast du die Zeit dazu. Sag mir, was so dringend ist, dass du mich aufgesucht hast.«
Ihre Wachen eskortierten sie zu einem provisorischen Thron – ein Zedernstumpf, der hastig zu einer königlichen Sitzgelegenheit mit Armlehnen und Höckerchen für die Füße verarbeitet worden war. Als sie hinaufstieg, um ihren Platz einzunehmen, durchfuhr mich plötzlich die Erkenntnis, was sie zurückzulassen gezwungen gewesen war. Man hatte ihr nicht nur Besitz und Wald genommen, sondern sie auch ihrer Wurzeln beraubt. Lainule war die Königin von Schilf und Aue, Herrscherin über New Forests Waldgebiete, und nun musste sie sich in einem provisorischen Lager verstecken und von dort aus versuchen, Myst irgendwie einen Schritt voraus zu bleiben.
Ich stieß den Atem aus. »Habt Ihr Euch mit dem Vampir Lannan Altos verschworen, um mich zu infizieren, so dass ich durch Grieve den Indigo-Hof mit einem Virus kontaminiere?«
Sie sah mich ruhig und klar an. »Nicht nur einen Virus, Cicely, eine Pest. Und ja, ich kenne Altos und seine blutdürstigen Gefährten. Es ist keine Zeit, um an alten Fehden festzuhalten. Wir haben einen gemeinsamen Feind. Es obliegt uns, zusammenzuarbeiten, um Myst und ihr Gewürm zu beseitigen. Und wenn man eine Bedrohung vernichten will, nimmt man kein Zuckerwasser, sondern Gift.«
Ich hätte mich fast an meiner Zunge verschluckt. »Gift? Aber Grieve – Ihr habt einen Eurer Prinzen eingesetzt, um das Toxin in den Hof einzuschleusen?«
»Hin und wieder müssen Opfer gebracht werden. Und da er nicht in den Indigo-Hof hineingeboren wurde, stehen die Chancen gut, dass er es überlebt. Ich tue, was immer ich muss, ich gehe die Risiken ein, die ich eingehen muss. Und was dich betrifft … Auch wenn ich gesagt habe, dass du mir gehörst, habe ich keine Probleme damit, dich mit den Vampiren zu teilen, um unsere Ziele zu erreichen.«
Mich zu teilen? Ein plötzlicher Gedanke kam mir, und ich starrte sie an. Konnte es sein? Nein. Aber andererseits …
»Wart Ihr die treibende Kraft hinter der Idee, dass der Karmesin-Hof mich für seine Zwecke einspannt?«
Lainules Lächeln war genauso grausam wie leuchtend. »O Cicely, wenn du das Volk deines Vaters besser kennenlernst, wirst du eines erfahren: Im Angesicht der Gefahr gibt es kein Zögern. Wir tun, was notwendig ist.«
Ich schauderte. Ich hatte das Feenvolk niemals für Pazifisten gehalten, aber dass sie derart skrupellos sein konnte, war mir nicht klar gewesen.
Wir. Wir konnten so skrupellos sein. Ich musste mich selbst einschließen. Auch ich hatte einen Feenanteil in mir.
Lainule beugte sich vor und hob mein Kinn mit einem Finger an. »Mach niemals den Fehler, dir dein Volk als sanfte Wesen vorzustellen, die auf silbernen Flöten spielen und zwischen Blumen hin und her huschen. Wir sind Krieger und Liebende. Wir sind von der Mutter auserwählt worden, ihre wilden Heiligtümer zu hüten und über die Reiche von Medb und Danu, Áine und Mielikki zu herrschen, und über die des Pan und Herne und Cernunnos und Tapio. Hast du mich verstanden?«