»Meinst du, dass er Schmerzen hatte, weil er sich im Tageslicht aufhielt? Obwohl wir unter so einer dichten Wolkendecke sind? Wenn er infiziert ist mit dem, was Lainule und Lannan zusammengemixt haben …« Leo hockte sich neben den Schattenjäger und begann, seine Sachen zu durchsuchen. Auf meinen fragenden Blick zuckte er mit den Achseln. »Vielleicht hat er etwas bei sich, das wir nutzen können.«
Und so schnell, wie wir Mörder geworden waren, wurden wir nun auch Plünderer.
Leo hielt ein seltsames Messer hoch, das offenbar aus Obsidian bestand. Die Klinge sah so scharf aus, dass ich fast nicht wagte, sie zu berühren, und als ich es doch tat, sickerte die Energie sofort in meine Glieder, und mir wurde kalt. Fast hätte ich die Hand weggerissen, aber das wäre ein gefährlicher Fehler gewesen, und ich konnte mich gerade noch beherrschen. Die Energie drang in mich, wand sich um meine Nerven, sog mich in eine Taubheit, die sich merkwürdig bekannt anfühlte.
»Hilf … mir …« Die Wörter waren wie dicke Schnecken in meinem Mund, und mein Kopf rollte zurück, und ich sank wieder auf die Knie.
Kaylin nahm mir die Klinge von der Handfläche. »Deine Augen … sie haben sich eben verändert, wurden wie … ich weiß nicht genau, zu was. Aber da war etwas.«
Der Nebel begann sich zu heben. Ich schüttelte den Kopf. »Gebt mir das bloß nicht noch einmal in die Hand. Das jagt mir eine Heidenangst ein.« Es war ein Gefühl gewesen, als versänke man in Treibsand, ginge in einer Teergrube unter, als würde man bei lebendigem Leib verschlungen. »Aber wir müssen trotzdem wissen, was das ist. Fällt uns irgendwas ein, wie wir es sicher transportieren können?«
Kaylin nickte und nahm seinen Rucksack ab. Er holte ein kleines Kästchen heraus, steckte das Messer hinein und wickelte ein Gummiband darum. Schließlich tat er es zurück in den Rucksack.
»Das sollte eigentlich reichen. Aber ja, du hast recht, wir sollten besser herausfinden, was zum Teufel das eben war.« Er streckte die Hand nach mir aus und rieb mir über den Arm, und ich schauderte. Kaylin hatte definitiv etwas, und wenn ich nicht mit Grieve zusammen gewesen wäre, dann wäre ich ihm so was von gern nähergekommen. »Alles gut?«
»Ja, aber wir sollten besser die Augen aufhalten. Wenn ein Schattenjäger hier herumlungert, dann tun es sicher auch noch andere. Und sie scheinen nicht gerade sehr glücklich zu sein, was uns allerdings verrät, dass Lainules Plan aufgeht – zumindest bis zu einem gewissen Grad.«
Wir setzten unseren Weg hinab fort. Ich passte noch mehr auf, wohin ich trat, und im dichten Schneefall, der jedes Geräusch dämpfte, stiegen wir schweigend bis zum Grund hinunter. Der Bach war inzwischen zu Eis erstarrt, obwohl ich der Schicht nicht zutraute, unser Gewicht zu tragen, und so balancierten wir letztlich doch wieder über die Trittsteine, um am anderen Ufer den Anstieg in Angriff zu nehmen.
»Schaut mal«, flüsterte Rhiannon. Ich folgte ihrem Blick.
Zwischen zwei hohen Tannen spannte sich ein enormes Spinnennetz. An den Fäden funkelten Unmengen winziger gefrorener Wassertröpfchen und bildeten ein Kunstwerk aus Eis und Seide, ein Ehrenmal für Arachne, ein Tribut an die Beharrlichkeit. Es war riesig, mindestens vier Meter von unten nach oben, und es spannte sich gute fünf Meter von Baum zu Baum. Ich fröstelte. Und wartete.
Langsam kam hinter einem Baum der Erschaffer des Werks, der Bildhauer, hervor. Der Korpus der Spinne hatte locker die Größe einer Salatplatte, und die Spindelbeine streckten sich einen guten halben Meter. Die Radnetzspinne war milchig weiß mit goldenen Flecken, und nun hastete sie ins Zentrum ihres Netzes. Eine andere gesellte sich hinzu, dann noch eine, und dann hockten alle drei dort und beobachteten uns.
»Gottverdammte Mistviecher.« Der Anblick verschlug mir den Atem. Ich mochte Spinnen grundsätzlich nicht, aber diese stießen mich mehr ab als alle, die ich bisher gesehen hatte. Eine Welle der Bösartigkeit ging von ihnen aus und rollte auf uns zu.
Ihr Biss ist tödlich … es sind keine normalen Radnetzspinnen. Sei ganz vorsichtig, denn das da sind Mysts Schoßtiere. Schneespinner. Ulean fegte in einem kalten Windstoß an mir vorbei und wirbelte Flocken und Eispartikel auf.
Ich nickte. Es fiel mir schwer, meine Augen abzuwenden, denn die Spinnen waren schön und schrecklich zugleich, und ihre Energie funkelte und lockte mich, doch näherzukommen.
Cicely, sie hypnotisieren dich. Bitte sag etwas, reiß dich aus ihrem Bann heraus. Sprich mit mir, Kind. Sprich.
Jemand schnappte keuchend nach Luft, und ich begriff, dass ich es selbst war: Ich hatte den Atem angehalten und meinem Körper das Kommando überlassen. Energisch schüttelte ich mich aus der Trance und wandte mich zu den anderen um.
»Schaut sie nicht zu lange an – sie können euch irgendwie in den Bann ziehen, zu sich locken und töten. Oder in Kokons weben und für Myst aufbewahren. Sie gehören ihr.« Ich schüttelte erst Rhiannon, dann Kaylin und Leo, um mich zu vergewissern, dass sie nicht auch weggetreten waren.
»Du meinst, sie weiß, dass wir hier sind? Sind die Spinnen ihre Augen und Ohren?«
»Eulen und Spinnen können einander nicht ausstehen«, flüsterte ich und sah über die Schulter zurück, um mich zu vergewissern, dass sie noch in ihrem Netz hockten. Und als ich sie nun betrachtete, hatte ich plötzlich den Wunsch, das Netz herunterzureißen. Es kam mir vor wie überreifes Obst, wie eine klebrige Süßigkeit, auf der sich durchscheinende Fliegen festgesetzt hatten.
»Und du bist eine Uwilasidhe, eine vom Eulenvolk.« Kaylin starrte die Insekten an. »Sollen wir versuchen, sie zu töten? Oder ist es dazu jetzt zu spät?«
»Ich denke, wir sollten uns fragen, ob wir sie überhaupt töten können.« Wir sahen einander in die Augen und verstanden uns ohne Worte. Er schüttelte langsam den Kopf, und ich nickte bestätigend. »Nein. Lassen wir sie. Ich habe das unangenehme Gefühl, wir würden ohnehin nur russisches Roulette spielen.«
Du hast recht, sie sind viel stärker, als du es dir vorstellen kannst. Feuer kann ihnen auch nichts anhaben, also sollte deine Cousine ihre Flamme bei sich behalten. Pass nur gut auf, wohin du trittst. Hier sind noch mehr im Wald.
Ich wirbelte herum und sah gerade noch, wie Rhiannon einen Molotow-Cocktail aus der Tüte zog. »Nicht!« Ich bedeutete ihr, die Flasche wieder wegzustecken. »Ulean hat mir gerade gesagt, dass das Feuer nichts nützen würde. Ihre Magie ist zu stark. Sie werden aber in ihrem Netz bleiben. Wir sollten nur aufpassen, wohin wir gehen, damit wir uns nicht versehentlich in einem anderen Netz verfangen. Offenbar gibt es hier in der Gegend noch mehr von ihnen.«
Wir setzten uns erneut in Bewegung, doch jetzt wusste Myst vermutlich, dass wir kamen, zumal wir einen der Ihren getötet hatten. Die Fürstin der Verwüstung wartete auf uns. Mit offenen Armen und gebleckten Zähnen.
24. Kapitel
Wir erreichten den Kreis der Pilze und umgingen ihn sorgsam. Da der Pfad nun verschneit war, passten wir besonders gut auf. Einige Fußspuren hier und da verrieten uns, dass erst kürzlich jemand vorbeigekommen war. Als wir hinter dem Kreis abbogen, hörte ich ein Geräusch aus den Büschen. Bevor ich meinen Fächer heben und mich bereitmachen konnte, trat Chatter hinter einem Baum hervor.