Wir schafften es zum Gipfel und kehrten, diesmal unter Chatters Führung, zum Pfad zurück. Doch schon ein paar Minuten später blieb er wieder stehen. »Sie könnten am Weg lauern, und sie werden garantiert kein Risiko eingehen, sondern in einer Stärke aufmarschieren, die wir nicht niederschlagen können. Ich kenne einen anderen Weg, aber er ist gefährlich.«
Stumm sah ich mich zu Leo und Rhiannon um. Sie nickten. Kaylin auch, während Peyton leise schnaufte. Seufzend wandte ich mich wieder Chatter zu. »Dann los. Du gehst voran.«
Schweigend bog er nach rechts ab und tauchte ins Dickicht. Wir hatten es nun mit mindestens einem halben Meter Neuschnee zu tun, und das Unterholz war so dicht, dass wir uns hindurchschieben mussten. Ich dachte mit Unbehagen an unsere Fußspuren, doch bei dem starken Schneefall und der einbrechenden Dämmerung würden sie bald kaum noch zu erkennen sein. Zumal wir hintereinander in einer Reihe gingen.
Der Nachmittag schritt voran, und laut meiner Uhr hatten wir noch etwas über eine Stunde Zeit, bis die Sonne offiziell unterging. Das einzig Gute an der Dunkelheit war, dass dann auch die Vampire erwachen würden, und mit etwas Glück konnten wir vielleicht, nur ganz vielleicht, auf ihre Hilfe zählen. Andererseits wussten sie ja nicht, was wir hier taten. Es hatte also wenig Sinn, auf die Kavallerie zu hoffen.
Schweigend schlugen wir uns durch den dichten Wald, Peyton immer wieder leise schnaubend. In ihrer Pumagestalt war sie an Kälte und Schnee gewöhnt. Chatter hielt in regelmäßigen Abständen an, damit alle aufholen konnten und wir niemanden verloren. Ich fragte mich gerade schon, was genau an dieser Strecke denn gefährlich sein sollte, als wir an die Klamm kamen. Hier gab es keinen einfachen Abstieg; der Rand war felsig und fiel steil ab, und nackter Fels zog sich bis hinunter in den großen Graben.
Eine Gletscherablagerung aus der Eiszeit, wie es viele im Staat Washington gab. Auf ihrem Rückzug hatten die Eismassen, die sich über das Land geschoben hatten, Felsen und Gestein liegen gelassen, und nun zogen sich überall steinerne Decken über das Land. Ginge hier Schnee ab, würde es eine gefährliche Steinlawine geben.
Der Schnee erhöhte außerdem die Gefahr, zwischen den Felsen stecken zu bleiben, sich einen Fuß zu verstauchen oder sogar zu brechen. Ich blickte die Steinkaskade hinab, und mir sank der Mut. Wir würden gut zwei Stunden brauchen, um hinunterzugelangen, und der Aufstieg auf der anderen Seite würde uns die letzten Kräfte rauben.
Chatter hielt an und ging in die Hocke, um den Schnee an der Kante zu untersuchen. »Das wird nicht leicht. Ich kann euch einen nach dem anderen hinunterbringen, aber ich fürchte, um euch auf der anderen Seite wieder hinaufzuhelfen, fehlen mir dann die Reserven.«
»Denkst du denn, du schaffst das, ohne dich selbst zu verletzen?« Ich blickte voller Unbehagen den Hang hinab. Wenn wir erst einmal dort unten waren und nicht mehr hochkamen, saßen wir wirklich in der Falle.
»Ich weiß es nicht, um ehrlich zu sein. Aber ich will’s versuchen.« Er sah mir direkt in die Augen, und sein Blick war sanft. »Cicely, Grieve würde sich wünschen, dass ich alles tue, was ich kann, um dir zu helfen. Also, bitte lass mich dir helfen.«
Ich nickte. Aber bevor wir uns in Bewegung setzen konnten, strich Peyton gegen meine Hand und schnaubte leicht. Sie tappte an die Kante und setzte leichtfüßig darüber. Eine Person weniger, die Chatter schleppen musste. Dann fiel mir etwas ein.
»Ich kann hinunterfliegen, wenn du meine Kleider mitnimmst, so dass ich sie nachher wieder anziehen kann.«
Rhiannon sah mich zweifelnd an. »Bist du sicher? Du bist erst ein einziges Mal geflogen.«
»Aber die ganze Nacht.« Und in diesem Moment hörte ich es – ein leiser Schrei über unseren Köpfen. Ich blickte auf. Der Uhu. Er kam herab und kreiste über mir. »Na, wenn das kein Zeichen ist.«
So schnell ich konnte, zog ich mich aus, und reichte Chatter meine Sachen. »Nimm zuerst Leo und meine Sachen, dann Rhia und Kaylin. Ich treffe euch unten.«
Sobald ich nackt war und während die anderen mich anstarrten, als hätte ich den Verstand verloren, schwang ich mich in das Geäst des nächsten Baumes. Den Fächer, den Lainule mir gegeben hatte, hatte ich mit der Schlaufe an meinem Handgelenk befestigt. Ich kletterte höher und höher und mühte mich, nicht im Schnee abzurutschen, aber ich zitterte entsetzlich. Der Uhu landete auf einem Ast, und ich kletterte hinauf und hockte mich neben ihn. Der Anhänger glomm in weichem Licht, und die Eulentätowierung begann zu prickeln. Ich sah den Uhu an. Er schwang sich empor, und ich holte tief Luft und stieß mich ab.
Der Boden raste mir entgegen, aber mein Körper verwandelte sich schneller. Ich konnte nicht erfassen, wie es geschah, aber innerhalb von Sekunden fingen meine Schwingen mich auf, und ich schwebte neben dem Uhu her. Wir tanzten umeinander herum, und ich verspürte eine merkwürdige Vertrautheit. Beim letzten Mal war ich so fixiert auf das Fliegen selbst gewesen, dass es mir nicht wirklich bewusst geworden war, aber nun fühlte ich eine Verwandtschaft zu dem Vogel. War er auch einer von den Uwilasidhe?
Komm, flieg zur anderen Seite.
Aber meine Kleider – ich kann nicht so lange warten, bis Chatter sie mir heraufgebracht hat, und wir wollen nicht riskieren, ihm alle Kräfte zu rauben.
Dann nach unten auf den Grund der Schlucht. Flieg und lande behutsam auf dem Baumstumpf neben dem Wasserfall.
Ich blickte hinab und sah den Baumstumpf, den er meinte. Der Baum war auf der anderen Seite über die nun gefrorenen Stromschnellen gestürzt. Ich stieß herab, kreiste und trudelte und genoss den Wind in meinen Flügeln. Der Uhu rief leise, als wir auf dem Stamm landeten. Er blieb neben mir hocken, während ich auf Chatter wartete. Und plötzlich jagte ein Schemen den steilen Hang herab und stoppte am Ufer neben mir. Es war Chatter, der Leo um die Taille hielt. Ich drehte den Kopf zu meinem Eulengefährten.
Danke. Wirst du auf unserem weiteren Weg über uns wachen? Kann ich auch in menschlicher Gestalt Kontakt aufnehmen?
Nein, dann hörst du meine Gedanken nicht – wir sind miteinander verbunden, doch nur in Eulengestalt. Aber ich werde bei euch bleiben und so gut es geht auf euch aufpassen. Nun verwandle dich wieder und zieh dich an.
Ich tat es und streifte in der Kälte hastig meine Sachen über, während der Schnee um uns herumtanzte. Chatter schoss erneut als ein Schemen den Hang hinauf, als Peyton gleichzeitig vorsichtig über den zugefrorenen Bach tappte. Innerhalb weniger Minuten waren wir alle auf dem Grund jener Klamm, die uns wieder zum Goldenen Wald und nach Hause bringen würde. Während ich noch hinaufblickte, hörte ich hinter uns ein Geräusch.
Ich drehte mich um und sah eine Truppe Indigo-Feen die felsige Böschung herabsteigen. Sie waren uns auf den Fersen, und sowohl Heather als auch Myst waren dabei.
26. Kapitel
Verdammt! Los, Leute. Sie sind unterwegs!«
Wir hasteten den steilen Weg die Klamm hinauf. Peyton hatte in ihrer Vierbeinergestalt kaum Probleme, und Chatter war schnell, aber wir anderen schafften es nicht so leicht. Ich packte jeden Zweig, jede Wurzel, ignorierte die Dornen, die durch meine Handschuhe stachen, ignorierte die tiefhängenden Zweige der Nadelbäume, die mir ins Gesicht peitschten, als wir uns halb kletternd, halb kriechend den Hang hinaufbewegten. Die Klamm war steil, hatte auf dieser Seite aber zum Glück jede Menge Bewuchs und Felsvorsprünge, an denen man sich hochziehen und festhalten konnte. Mein Atem kam stoßweise in weißen Wölkchen, und ich versuchte, mich auf das, was vor mir lag, zu konzentrieren, nicht auf die Tatsache, wie dicht sie hinter uns waren.