Leo nickte, legte ihr einen Arm um die Schultern und küsste sie zärtlich auf die Wange, während sie beide sich wieder dem Haus zuwandten. Ich zögerte noch.
»Geht schon, ich komme gleich nach. Ich muss zuerst noch die Botschaft an Grieve aussenden.« Beide bedachten mich mit einem besorgten Blick, doch ich nickte zuversichtlich. »Ich passe auf, versprochen.«
Leo zuckte mit den Achseln und führte Rhiannon zurück zum Haus. Ich wandte mich wieder dem Wald zu und betrat den Pfad, und sobald ich die Grenze überschritten hatte, spürte ich, wie sich die Stille über mich senkte.
Ich schloss die Augen und betete, dass dieses höllische Feenwesen, das mich angefallen hatte, längst weit fort war. Nach einem kurzen Augenblick fing ich den Duft einer flüchtigen Bö auf und konzentrierte mich auf ihren Windschatten, tauchte vorsichtig in ihn hinein. Zunächst schien alles ganz normal. Doch plötzlich riss mich etwas in den Luftstrom, und ich schoss mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch den Wald, wie ein Otter, der von der tosenden Strömung eines reißenden Bachs mitgezerrt wird.
Bäume, Dickicht, Waldboden – alles verschwamm ineinander, als ich durch den Wald raste und wie ein Blatt im Wind hierhin und dorthin geschleudert wurde. Vergeblich versuchte ich, mich aus der Strömung zu befreien; irgendetwas hielt mich darin fest, rang mit mir, klammerte sich an mich, und dann erhaschte ich einen Blick auf ein Gesicht hinter einem diesigen Schleier. Ein Schneeelementar mit einem Gesicht aus Eis, mandelförmigen Augen und einem halbirren Lachen auf den Lippen.
Bitte lass mich. Bitte …
Die geflügelte Gestalt packte fester zu und drückte mich so sehr, dass meine Rippen zu brechen drohten. Dann ließ sie mich lachend so abrupt, wie sie mich geschnappt hatte, los, und ich stürzte, fiel abwärts, schlug verzweifelt mit Armen und Beinen um mich, denn wir waren hoch oben in den Bäumen gewesen, und ich würde mir den Hals brechen, wenn ich am Boden aufschlug. Doch noch während ich weiter abwärts segelte, verlangsamte sich mein Fall, und schließlich segelte ich sacht wie eine Feder herab und zurück …
… in meinen Körper.
Blinzelnd sah ich mich um. Ich stand noch genau da, wo ich gewesen war, als das Schneeelementar mich gepackt hatte.
Du darfst hier nicht bleiben. Das Wesen ist alt, und gegen seine Kraft kann ich nichts ausrichten. Das ist sein Hoheitsgebiet. Wenn es sich deine Seele und deinen Körper nimmt, werde ich es nicht daran hindern können. Uleans Flüstern hüllte mich ein wie ein Nebel aus Samt.
Schaudernd und noch verwirrt von dem, was geschehen war, flocht ich behutsam einen Gedanken in die nächste Bö, die an mir vorbeizog. Grieve, Chatter. Wir brauchen euch. Meine Tante ist verschwunden. Etwas aus dem Wald hat sie entführt. Bitte. Helft uns.
Als keine Antwort kam, drehte ich mich um und lief zum Haus zurück. Ich musste mich nicht umsehen, ich konnte sie spüren, die Eule, die mich aus dem Wipfel einer Zeder beobachtete, während ich über den Rasen hastete.
4. Kapitel
Ein Anruf bei LeAnn bestätigte unsere Befürchtungen.
»Ich kann euch nicht helfen«, sagte sie über den Lautsprecher des Telefons. »Ich wünschte, ich könnte es, aber ich muss an mein Baby denken. Es tut mir leid, aber ich habe mich aus dem, was von der Gesellschaft geblieben ist, zurückgezogen. Es ist vorbei, Rhiannon. Deine Mutter und Elise und die anderen – sie sind wahrscheinlich tot. Ich an eurer Stelle würde von hier verschwinden, solange es noch geht. Meine Familie ist morgen um diese Zeit jedenfalls zweihundert Meilen weit weg und in Sicherheit.« Sie legte auf, ohne sich zu verabschieden.
»Das war’s.« Rhiannon ließ sich auf das Sofa fallen. »Tyne ist Martas Enkel, aber ich habe keine Ahnung, wo er sein kann. Und Rupert war auch nicht zu Hause, als ich versucht habe, ihn zu erreichen. O Mann, bin ich müde.«
»Komm, ich mache uns Tee.« Ich suchte mir in der Küche alles Nötige zusammen, war aber froh, dass Leo mir half. Rhiannons unvermittelte Trance hatte mir Angst gemacht, und auch wenn ich keine Ahnung hatte, wer oder was der Indigo-Hof war, so wollte ich ganz bestimmt nicht, dass er sich im Kopf meiner Cousine breitmachte.
Als der Tee gezogen hatte, trug ich das Tablett ins Wohnzimmer und setzte mich mit der dampfenden Tasse ans Fenster. Nachdenklich blickte ich hinaus zum Wald.
»Was denkst du?« Rhiannon trank einen Schluck, und ein wenig von der Spannung schien von ihr abzufallen.
»Ich denke, dass ich wohl oder übel den Hintern hochkriegen und nach Grieve suchen muss.«
»Es tut mir so leid, Cicely. Es ist irgendwie nicht fair. Du bist erst heute Morgen hergekommen und hattest noch nicht einmal eine Chance auszupacken.«
»Nicht schlimm. Ich bin es gewohnt, aus meinem Auto zu leben. Und als Krystal noch lebte, waren wir ständig auf der Flucht. Das hier ist nichts im Vergleich zu den Nächten, in denen wir versuchten, aus der einen oder anderen Stadt zu entkommen, bevor die Kerle, mit denen sie sich eingelassen hatte, uns erwischten, um ihre Drogenschulden einzutreiben.«
Die Erinnerungen an finstere Nächte, die wir durch einsame Gassen geflohen waren, um zur Schnellstraße zu gelangen, damit uns dort vielleicht jemand bis zur nächsten Stadt mitnahm, stiegen in meinem Bewusstsein auf. Ich hatte schon früh gelernt, Mitfahrgelegenheiten aufzutun, und mehr als einmal hatte mich Ulean vor den Vergewaltigern und Mördern, die sich nachts auf den Straßen herumtrieben, beschützt.
»Ich begreife einfach nicht, wie sie dir ein solches Leben aufzwingen konnte«, sagte Rhiannon. »Heather hat so oft versucht, dich herzuholen, aber jedes Mal, wenn sie mit deiner Mutter sprach, brach sie irgendwann weinend ab, weil Krystal dich einfach nicht weglassen wollte. Und als du dann endlich doch zu uns kamst …«
»Fühlte ich mich verpflichtet, wieder zu ihr zurückzugehen, weil sie meine Hilfe brauchte. Sie hatte ein Händchen dafür, mir Schuldgefühle einzuimpfen. Immer wenn ich hier war, wollte ich unbedingt bleiben. Herrje, ich weiß, dass Heather alles getan hat, was sie konnte. Aber jetzt bin ich ja hier. Und nur das zählt.«
Ich stellte meine Tasse ab und streifte mir meine Jacke wieder über. »Ruf den Anwalt an und mach mir für heute einen Termin, falls möglich. Wenn nicht, für morgen. Ich mache mich auf die Suche nach Grieve. Wenn ich in einer Stunde nicht zurück bin, kommt an den Waldrand und ruft meinen Namen, aber tretet unter gar keinen Umständen ein.«
Leo nickte. »Okay. Und Cicely – sei vorsichtig. Deine Cousine braucht dich.«
»Und du willst das wirklich? Noch einmal rausgehen?« Rhiannon kam mühsam auf die Füße.
»Ja. Ich passe auf mich auf.« Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke zu. »Habt ihr vielleicht Handschuhe für mich?«
Rhiannon gab mir ein Paar Lederhandschuhe und einen Schal. »Pack dich gut ein, es ist eisig draußen. Und bitte sei vorsichtig. Ich will nicht auch noch dich verlieren.«
Bevor ich hinausging, lief ich nach oben und holte mein Springmesser. Klar war es illegal, eine solche Waffe mitzuführen, aber das war mir vollkommen egal. Ich hatte schon früh in meinem Leben auf die harte Tour gelernt, dass sich selbst beschützen zu können das Risiko wert war, von der Polizei aufgegriffen und durchsucht zu werden. Als ich auf die Veranda hinaustrat, war Rhiannon bereits am Telefon, um einen Termin beim Anwalt zu machen.