»Mein Fürst.« Huma mußte erst einmal schlucken. Nach den ersten paar Worten fiel die Unsicherheit von ihm ab, und er erzählte die Einzelheiten des Angriffs in kurzen, klaren Sätzen. Die drei Kommandanten hörten genau zu. Huma erwähnte auch die Anwesenheit von Magus, ließ jedoch das meiste ihrer Unterhaltung weg.
Als er fertig war, stand er schweigend da. Seine Augen blickten stur geradeaus, sein Körper stand in Habachtstellung da. Die Ritterfürsten berieten sich flüsternd untereinander, weswegen Huma nicht mitbekam, was ihnen aufgefallen war.
Fürst Falkenauge ging von den anderen beiden weg zu Rennard. »Ritter Rennard, hast du noch irgend etwas hinzuzufügen?«
»Nur daß ich den Wald von Männern nach möglichen Zeichen einer Invasion absuchen ließ und während Humas Abwesenheit einen neuen Hauptmann der Wache ernannt habe.«
Der Drang zu reagieren war fast überwältigend, doch Humas antrainierte Selbstbeherrschung half ihm zu widerstehen. Rennard hatte zu ihm gestanden.
»Aha«, sagte Fürst Oswal. »Das ist dann alles. Ritter Huma, meine Empfehlung an Fürst Arak Falkenauge ist, dir eine zweite Chance zu geben. Du hast es eindeutig mit Magie von außerordentlicher Stärke zu tun gehabt und aus diesem Grund das Lager ohne Warnung verlassen.«
Bennetts Blick hätte töten können, doch Huma war viel zu erleichtert, um sich daran zu stören.
»Danke, mein Fürst – meine Herren.«
Der Oberste Kommandant hob die Hand. »Ihr beide seid entlassen.«
Fürst Falkenauge fügte hinzu: »Ritter Huma und Ritter Rennard, ihr seid beide für diese Nacht von euren Pflichten entbunden. Legt euch schlafen.«
Rennard nickte einfach, als hätte er die ganze Zeit schon gewußt, wie das Treffen ausgehen würde. Sie gingen fort, während die drei Kommandanten wieder die Köpfe zusammensteckten. Bennetts Stimme wurde laut vor Zorn. Er fand offensichtlich, daß der Maßstab eine erheblich schärfere Bestrafung für das forderte, was in seinen Augen eindeutig eine Handlung von lebensgefährlicher Fahrlässigkeit gewesen war. Huma und Rennard waren bereits außer Hörweite, bevor eine Widerrede kam.
»Das ist noch mal gutgegangen«, bemerkte Rennard beiläufig.
Huma konnte ihn nicht ansehen. »Danke, Rennard.«
»Wofür? Dafür? Jemand muß dich vor dir selbst retten. Außerdem würde ich Bennett nicht die Genugtuung geben. Nicht einmal um des Kodexes willen. Oder des Maßstabs.«
Seine Worte ließen Huma in der Luft hängen. Rennard lebte anscheinend nach seinen eigenen Gesetzen.
Den Rest des Weges legten sie schweigend zurück.
Ein großer Bronzeturm ragte vor Huma empor. Er hing am Rande des Nichts, und dieses Nichts war der Abgrund. Der Turm war so alt, daß er bröckelte, obwohl er aus Metall war.
Huma fühlte sich ungewollt zum einzigen Tor des Turms hingezogen. Dinge, die eigentlich tot sein müßten, boten sich als Führer an. Leprakranke lächelten mit lippenlosem Mund. Ein Pestopfer – einst eine Frau – griff nach seiner Hand. Voller Entsetzen sah er, daß es seine Mutter war. Huma zuckte zusammen, und sie verschwand.
Die modrige Zugbrücke wurde für ihn heruntergelassen. Von drinnen winkte ihn eine Hand herein. Eine große Gestalt in zerlumpten Kleidern erwartete ihn. Sie trug eine rostige Krone – auf dem Kopf? Unter der Krone war kein Gesicht, nur zwei rote Kreise in einem Meer der Unendlichkeit.
Hinter ihm schloß sich leise das Tor.
Schwitzend erwachte Huma. Das Lager war noch nicht erwacht, auch wenn die Ritter sich bald regen würden. Huma war dankbar dafür. Nach diesem Traum hatte er keine Lust, wieder einzuschlafen.
So lebhafte Träume hatten ihn noch nie geplagt. Manche Leute glaubten, daß sie eine Bedeutung hatten, doch was dieser ihm mitteilen wollte, war Huma schleierhaft. Natürlich erkannte er den Bronzeturm und das Böse, das darin wohnte. Es war eine lebensechte Szene aus seiner Ausbildung, wo ein Kleriker des Paladin ihm die Götter vorgestellt hatte, die das Licht bezwingen wollten. Der Name dieses speziellen bösen Gottes war Morgion, und er lebte von der Verwesung der Welt.
Wenn je ein Gott von diesem endlosen Krieg profitiert hatte, dann war es Morgion. Verwesung war allerorts zu sehen, selbst in den Städten, die vom Krieg verschont geblieben waren – und wenn nicht körperliche Verwesung, dann moralische wie in der übersättigten Stadt des ergodianischen Kaisers, eines Mannes, der Gerüchten zufolge so verwöhnt war, daß er nicht einmal wußte, daß Krieg war.
Wo die Verwesung Überhand nahm, wurde Krankheit zur Normalität. Bei der Erinnerung an seine Mutter schlang Huma die Arme um sich. Ihr Tod durch die Pest hatte alles geändert. Allein hatte er den Ruf seines Vaters gehört, des Mannes, den er nie gekannt hatte, der jedoch sein Leben beherrschte. Der Preis allerdings…
Indem er aufstand, schüttelte er den Traum ab und rüstete sich für den bevorstehenden Tag. Rennard hatte versprochen, mit Fürst Falkenauge über ein weiteres Kommando für Huma zu sprechen. Was den ausgezehrten Ritter betraf, war der Zwischenfall mit Magus vergessen. Es gab Wichtigeres.
Ein ersticktes Stöhnen ließ ihn herunterschauen. Kaz war von den Geräuschen aufgewacht, blinzelte und öffnete seine verschlafenen Augen. Der Ausdruck ähnelte so sehr einem erwachenden Stalltier, daß Huma ein kurzes Lächeln nicht unterdrücken konnte.
Der Minotaurus legte sich wieder schlafen. Bis jetzt wußte Kaz noch nichts von den Ereignissen der Nacht. Da die Kommandanten zufrieden waren, daß sie schließlich alle nur möglichen Informationen aus ihm herausgeholt hatten, hatten sie dem Minotaurus endlich einen richtigen Nachtschlaf gestattet.
Gähnend schaute Huma über die Grenze des Lagers in die Richtung, wo sich zwischen den Bäumen der erste Schimmer der Dämmerung abzeichnete.
Seine Augen trafen auf den starren Blick der leeren Augen des Wesens, das Magus als Schreckenswolf bezeichnet hatte.
Irgendwann einmal mochte es ein wirklicher Wolf gewesen sein. Der Körperbau stimmte überein, doch es war, als hätte ihn ein perverser Nekromant von den Toten auferweckt und nur teilweise Erfolg gehabt. Nicht ein einziges Haar zierte den knochigweißen Körper. Er schien nicht einmal eine Haut zu haben. Er war wie der Geist eines toten Tieres, das sein Jäger gehäutet hatte. Auch wenn er gut zwanzig Fuß entfernt war, konnte Huma den Gestank der letzten Nacht riechen. Den Gestank nach Verwesung. Nach Tod.
Das Wesen wußte, daß er da war. Obwohl seine Augen offenbar blind waren, spürte es ihn, kannte ihn. Hinter den toten Augen steckte eine kalte, böse Intelligenz, die den Ritter zu verspotten schien.
Ohne die Augen davon zu lösen, beugte sich Huma zu dem Minotaurus hinunter. »Kaz.«
Er merkte, wie Kaz sich regte. Ein belegtes Flüstern kam zurück. »Huma?«
»Dreh dich um. Schau an mir vorbei.«
Der Minotaurus gehorchte. Seine Augen öffneten sich – ein wenig –, und zuerst sah Kaz gar nichts, so verschlafen wie er war. Erst als er es wagte, sie weiter aufzumachen, bemerkte Kaz das gräßliche Wesen. Der Gestank drang dem Minotaurus in die Nase.
»Bei meinen Ahnen«, zischte Kaz. »Ein Schreckenswolf, Huma!«
»Ich weiß.« Der Minotaurus kannte sie also. Was tat das Wolfswesen hier, fragte sich der Ritter. Magus hatte gesagt, sie würden abziehen, wenn sie feststellten, daß er fort war. Warum war die ekelhafte Kreatur immer noch da und trotzte sogar der Dämmerung? Wie war sie an den Posten vorbeigekommen?
Der Schreckenswolf fixierte Huma weiter mit seinen toten Augen. Er war seinetwegen hier, daran bestand kein Zweifel. Huma erkannte, daß er eine Art Bote sein mußte.
»Ich muß näher ran.«
Kaz war schnell auf den Beinen. Er hatte die Axt in der Hand. Das Wolfswesen beachtete Humas ungewöhnlichen Gefährten kaum. Es schien aufgeregter zu werden, als Huma ein paar zögerliche Schritte auf es zu ging.