Nur mit großer Anstrengung unterdrückte er einen Schrei. Aus reinem Reflex rollte er sich beiseite und kam mit gezogenem Schwert auf die Knie. Hinter ihm sprang Kaz kampfbereit mit wildem Schnauben auf.
Es überragte sogar den Minotaurus – ein großer, massiver Überhang aus bewachsenem Fels. Wäre er schon am Vorabend dagewesen, so hätte Huma vielleicht nichts Ungewöhnliches daran bemerkt. Er hätte die massiven Steinauswüchse übersehen können, die man als Arme bezeichnen konnte. Er hätte übersehen können, wie die äußere Hülle aus Erde und Bewuchs sich ständig veränderte. Er hätte vielleicht auch die beiden blaugrauen Kristalle übersehen können, die aus einer Art Gesicht auf ihn herabzublicken schienen.
All das nahm er in wenigen Sekunden wahr. Der lebende Erdwall bewegte sich etwas vorwärts, wobei er Erde, Insekten und Pflanzen mit sich hochzog. Er schien keinen wirklich eigenen Körper zu haben, sondern ihn von seinem Standort zu beziehen. Huma machte sich bereit; Kaz hielt seine riesige Streitaxt in der Hand. Dann hallte Gelächter durch den Wald. Das Gelächter von Magus.
»Gebt’s auf, ihr tapferen Krieger. Der Elementar will euch nichts tun. Er gehört zu mir. Ein Pförtner sozusagen.«
Kaz fuhr herum, und seine Axt trieb ein tiefes Loch in den Baum, an dem Magus gesessen hatte. Die Axt verfehlte seinen Kopf nur knapp. Magus wurde blaß, und sein Mund blieb mitten im Lachen offen stehen.
Dem wütenden Krieger war es nicht vergönnt, seine Rache zu genießen, denn plötzlich sackte die Erde unter ihm weg. Ein Erdbeben – nur an dieser einen Stelle – schüttelte den hilflosen Minotaurus. Huma blickte auf seine eigenen Füße, unter denen die Erde so fest wie immer war, und dann wieder auf Kaz. Brüllend ließ der Minotaurus seine Axt los und fiel rücklings hin.
Inzwischen hatte Magus seinen Schock überwunden. Er bemühte sich, leise und weniger spöttisch zu lachen. Als Kaz erfolglos versuchte, sich aufzurichten, schüttelte er den Kopf.
»Du wirst nie wieder auf zwei Beinen stehen, bis ich es sage, mein hitzköpfiger Freund. Habe ich dein Wort, daß du aufhören wirst, mich anzugreifen?«
Als das Kinn des Minotaurus auf den harten Erdboden knallte, grunzte er sein Einverständnis. Magus sah den Elementargeist an. Es sah so aus, als ob die zwei Kristalle dem Blick begegneten, obwohl Huma wußte, daß er sich das auch einbilden konnte. Ohne Vorwarnung nahm der Boden unter Magus wieder seine normale Beschaffenheit an. Kaz zögerte, weil er einen neuen Trick erwartete.
»Oh, steh schon auf!« rügte der Zauberkundige. »Du bist absolut sicher.«
Huma entspannte sich, steckte jedoch sein Schwert nicht zurück. Das Erdwesen beunruhigte ihn.
Magus erhob sich und stellte sich zwischen das Wesen und Huma. Wie ein Mann, der einen Hund abrichtet, hob Magus die Hand und sagte: »Sprich zu mir.«
Die Stimme klang tief und hallend, gleichzeitig auch so, als wenn man einem Haufen Steine und Kiesel zuhört, die heftig in einem Eimer geschüttelt werden. Die ersten Worte waren praktisch unverständlich. Es wiederholte sie.
»Alles gut. Niemand betritt Hain. Zitadelle begrüßt Zauberers Rückkehr.« Der Erdwall schwieg.
Magus nickte zufrieden. Zu den anderen sagte er: »Hinter diesen dichten Bäumen, vielleicht drei oder vier Wegstunden entfernt, liegt unser Ziel.«
Kaz ballte die Fäuste, besann sich dann aber eines Besseren. Er hatte bereits eine Kostprobe davon gehabt, was der Diener des Zauberkundigen anrichten konnte. »So nah, und du hast uns hier schlafen lassen?«
»Ich denke, du hast gehört, daß der Erdelementar den Hain erwähnte?« Das Gesicht des Magiers war sehr ernst.
»Was ist damit?«
»Nur ich würde es wagen, den Hain bei Nacht zu betreten, und nur weil ich Zeit darauf verwendet habe, ihn zu beherrschen. Euch beide hindurchzuführen hätte euren sicheren Untergang bedeutet.«
Huma blickte in die Richtung, in die sein Freund gezeigt hatte. »Was ist denn so gefährlich? Kann eine Klinge oder eine Axt dem nicht ein Ende bereiten?«
Das Gelächter des Magiers enthielt wenig Humor. »Es gibt viel tödlichere Gefahren als die rein faßbaren. Sagen wir mal, man braucht einen starken Geist, um unversehrt hindurch zu kommen. Einen starken Geist oder einen sehr einfachen, wie du willst.«
›Rätsel‹, hätte Kaz gesagt, dachte Huma jetzt. Er traute Herausforderungen nicht, die man nicht offen bekämpfen konnte. In mancher Hinsicht war das ein anderes Zeichen für die Veränderung, die mit Magus seit ihrer letzten Begegnung vor der Prüfung vorgegangen war.
»Der Elementargeist wird uns führen und tun, was er kann, um jeden von uns zu beschützen, der vom Pfad abkommt. Mögen die Götter ihm gnädig sein, denn der Hain ist es nicht.«
Es dauerte nur eine halbe Stunde, bis sie den Rand des Hains erreichten. In seinem ganzen Leben hatte Huma noch kein so dichtes Blattwerk gesehen. Bäume, Gräser, Sträucher, sogar Schlingpflanzen wuchsen so dicht neben- und umeinander, daß sie einen regelrechten Verteidigungswall um Magus’ Zufluchtsort bildeten. Sosehr er sich auch bemühte, Huma konnte in den Tiefen des Hains nichts erkennen.
An mehreren Stellen führten Pfade in den Wald, die jedoch bald unter Biegungen verschwanden, so daß nicht abzuschätzen war, welcher der beste sein würde. Der Erdelementar passierte einige von ihnen, auch ein paar, die erheblich einladender wirkten als der, den das Wesen schließlich einschlug. Kaz betrachtete den gewählten Pfad kritisch und schüttelte seine große Hand.
»Seht euch das an.« Mit seiner klauenbewehrten Hand wies er auf die scharfen, dornigen Schlingpflanzen am Anfang. »Der Pfad, an dem wir gerade vorbeigekommen sind, war viel breiter und gut ausgetreten! Das ist bestimmt der falsche Weg!«
Magus sah ihn mit offener Verachtung an. »Der schönste Köder fängt die meisten Fliegen, mein Freund. Du kannst gerne den anderen Pfad nehmen, wenn du willst. Hier werden wir ein bißchen von den Pflanzen gepiekt. Da drüben… kann alles mögliche passieren.«
Unsicher von einem Fuß auf den anderen tretend, musterte Kaz die beiden Wege. Verzweifelt blickte er zu Huma.
Huma wiederum sah Magus an. Der Zauberer hielt sich zurück. Huma starrte auf den überwucherten Pfad.
»Ich vertraue ihm, Kaz.«
»Dann gehe ich dort lang, wo du lang gehst.«
»Ich bin froh, daß das entschieden ist.« Magus schüttelte verwundert den Kopf. Er hob seinen Stab und klopfte auf den Rücken – es sah jedenfalls so aus wie ein Rücken – des Elementars. Der lebende Hügel schob sich vor, wobei die Erde vor ihm seine Gestalt annahm, als er in den Hain glitt. Magus folgte ihm ohne Zögern. Der Minotaurus schaute Huma an, dann folgte er dem Zauberer.
Huma holte tief Luft, behielt sein Schwert in der Hand – weswegen, konnte er nicht sagen – und betrat den Pfad.
9
Der Pfad schlängelte sich mit erstaunlicher Regelmäßigkeit durch den Hain. Hätte Magus sie nicht mehr als einmal beruhigt, so hätte Huma geglaubt, daß sie im Kreis liefen.
Er mochte den Hain nicht, der selbst bei Tag düster und voller tiefer Schatten war. Ohne das Licht des Stabes wären sie sicher vom Pfad abgekommen.
Huma duckte sich vor einem dornigen Ast, der in den Weg hineinragte. Nach dem ersten, scharfen Kratzer einer der zahllosen Ranken hatte er sein Visier geschlossen. Dennoch schabte jeder Dorn an dem Metall um seinen Körper entlang, und Huma bahnte sich verstimmt Schritt für Schritt seinen Weg. Doch egal, wann er zurückblickte, nie hinterließen seine Bemühungen eine Spur.
Vor ihm ließ Kaz fluchend seine Streitaxt auf einen Dornenbusch herabsausen. Der verletzte Minotaurus hackte auf die Pflanze ein, bis nur noch Späne zurückblieben. Fast im selben Moment lief er mit dem Gesicht in eine herunterhängende Ranke. Die scharfen Klingen der Axt fuhren empor und hackten auch diese in Streifen.
Der abrupte Abhang nach der nächsten Biegung kam für alle überraschend. Die Erdbewegungen durch den Elementar narrten Magus. Sein Stab senkte sich, und der Magier, der Widerstand erwartet hatte, purzelte kopfüber nach vorn. Kaz, der nächste, stürzte über den Zauberkundigen. Huma wich aus, um nicht auch noch auf dem zappelnden Haufen zu landen, rutschte an einer anderen Stelle aus und kam vom Weg ab.